Mülheim. Beim Warnstreik der IG Metall in Mülheim zog die komplette Vallourec-Frühschicht mit. Zwei Schlagworte waren: „8,2“ und „Riesen-Sauerei“.

Rote Fahnen, rote Westen, gellende Trillerpfeifen, dröhnende Reden: Der Warnstreik, zu dem die IG Metall am Montag in Mülheim aufgerufen hat, kommt daher wie ein klassischer Dampfmacher im laufenden Tarifkonflikt. „Bereit für Streit – 8,2 %“ steht auf den Transparenten. Doch die große Kundgebung auf dem Rathausmarkt hat einen besonderen Charakter. Gekämpft wird auch für die Vallourec-Leute, die nicht wissen, wie lange sie überhaupt noch Lohn bekommen.

Ihre komplette Frühschicht sei am Montagmorgen auf den Beinen, weg von den Maschinen, sagen die Vallourec-Beschäftigten, die sich dem Demonstrationszug angeschlossen haben. Zahlreich sind die blau-orangefarbenen Arbeitsjacken, die man hier erblickt. Entsprechend hitzig ist die Stimmung. Allen ist klar: Das Vallourec-Aus (hier auf dem Podium als „Riesen-Sauerei“ tituliert) betrifft auch Jobs in vielen anderen Betrieben.

Warnstreik in Mülheim: IG-Metall fordert 8,2 Prozent

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Mit Warnstreiks will die IG Metall die Tarifverhandlungen in der Eisen- und Stahlindustrie vorantreiben. Die Gewerkschaft fordert eine dauerhafte Lohnerhöhung von 8,2 Prozent. Die Arbeitgeber boten zunächst nur eine Einmalzahlung von 2100 Euro. „Kein Angebot – ein Almosen“, so die einhellige Meinung auf der Kundgebung. In der dritten Verhandlungsrunde am Wochenende lag eine Offerte von 4,7 Prozent für 21 Monate auf dem Tisch – für die IG Metall inakzeptabel.

Ihre forsche Forderung mit einer Acht vor dem Komma begründet die Gewerkschaft einerseits mit der extremen Inflation, den Preissteigerungen, unter denen die Haushalte leiden, andererseits mit den aktuell hervorragenden Gewinnen der Stahlunternehmen – beides forciert durch den Ukraine-Krieg. Für die vierte Verhandlungsrunde am Dienstag fordert die IG Metall ein deutlich nachgebessertes Angebot. Der Montag wurde zum Aktionstag erklärt, mit Warnstreiks in insgesamt zwölf Städten, darunter Mülheim.

Laut Gewerkschaft rund 1000 Protestierende auf dem Rathausmarkt

Aufgerufen waren Beschäftigte von drei Mülheimer Betrieben – Vallourec, Europipe und Salzgitter Mannesmann Grobblech (SMGB) – sowie der Energietechnik in Essen und von Thyssen Krupp Electrical Steel in Gelsenkirchen. Etwa 1000 Teilnehmende hatte die IG Metall erwartet, und nach Schätzung von Gewerkschaftssekretär Dirk Horstkamp wurde diese Zahl in Mülheim in etwa erreicht. Derweil bezifferte einer der Polizeibeamten vor Ort die demonstrierende Menge nur auf 500 Personen.

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Mülheims Oberbürgermeister Marc Buchholz hatte laut Veranstaltern kurzfristig abgesagt, doch die Rednerliste war auch so recht lang, unter anderem mit DGB-Regionalgeschäftsführer Dieter Hillebrand, Frank Schulz als Betriebsratschef von Europipe, dem Gelsenkirchener IG-Metall-Geschäftsführer Ralf Goller und Verdi-Vertreter Jonas Schwabedissen, der um Solidarität mit den Streikenden an den Unikliniken warb.

Mülheimer Vallourec-Betriebsrat: „Wir werden uns nicht abspeisen lassen“

Ousama Bouarous, Betriebsratsvorsitzender von Vallourec, wandte sich engagiert an die Menge. Die Verhandlungen über einen Sozialtarifvertrag, bislang drei Runden, kommen ihm zu schleppend voran. Man habe während des Verkaufsprozesses „die Beine still gehalten“, so Bouarous, um eine mögliche Veräußerung der Standorte nicht zu gefährden. „Jetzt lassen wir uns nicht mehr hinhalten, und wir werden uns nicht abspeisen lassen.“

Eindrucksvoller Demonstrationszug zum Mülheimer Rathausmarkt: Dem Warnstreikaufruf der IG Metall folgten am Montagmorgen Beschäftigte aus Mülheimer, Essener und Gelsenkirchener Betrieben.
Eindrucksvoller Demonstrationszug zum Mülheimer Rathausmarkt: Dem Warnstreikaufruf der IG Metall folgten am Montagmorgen Beschäftigte aus Mülheimer, Essener und Gelsenkirchener Betrieben. © FUNKE Foto Services | Oliver Müller

Der Mülheimer SPD-Landtagsabgeordnete Rodion Bakum, der bei der Kundgebung mitmarschierte und ans Mikro trat, fordert einen „NRW-Stahlgipfel“ noch in diesem Sommer. Speziell mit Blick auf Vallourec prangert er die geplante Konzentration der Produktion in Brasilien an, als „Schlag ins Gesicht für alle, die die besten Röhren unter fairen Bedingungen in Mülheim und Deutschland produzieren“. Niemand könne den Vallourec-Leuten ihre Sorgen nehmen, so Bakum. „Aber ihr seid nicht alleine!“

Vallourec-Mitarbeiter (58) hofft jetzt auf Altersteilzeit

„Ja, ja ...“, winkt Ingo Fuhrmann ab, einer der Vallourec-Männer, die auf der Rathaustreppe zusammensitzen. Der 58-Jährige, von Hause aus Tischler, arbeitet seit 17 Jahren bei Vallourec. Er begann über eine Zeitarbeitsfirma, ehe er mit 54 Jahren fest eingestellt wurde. „Ich hoffe jetzt auf Altersteilzeit“, sagt Fuhrmann. Doch in seinem Alter könne nicht mehr so viel passieren. „Am schlimmsten ist es für die jungen Leute.“

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Für Kollegen wie Justin Liebau (27), der bei Vallourec eine zweite Ausbildung zum Maschinen- und Anlagenführer absolvierte und der unvermeidlichen Schließung des Standortes bis Ende 2023 noch ohne konkreten Plan entgegensieht. Er werde sich wohl bei Thyssenkrupp oder einer anderen Firma aus der Branche bewerben, so der junge Mann. Aber erst, wenn er die Kündigung hat. Problem: Sein Vertrag läuft Mitte 2023 aus. „Wenn die zum Jahresende schließen, krieg ich gar nichts.“

Einige aus der Belegschaft sind schon weg

Ein Industriemechaniker (23) und eine Kollegin (21) haben nach ihrer Ausbildung bei Vallourec ebenfalls nur Zwei-Jahresverträge bekommen. Sie beobachten, dass nicht alle in der Belegschaft auf das dicke Ende warten: „Einige sind schon weg.“

Neue Verhandlungsrunde bei Vallourec

Für die rund 2400 Vallourec-Beschäftigten in Mülheim-Dümpten und Düsseldorf-Rath steht an diesem Dienstag die vierte Verhandlungsrunde über einen Sozialtarifvertrag an.Wie Betriebsratsvorsitzender Ousama Bouarous ankündigt, soll die Runde unterbrochen werden für ein Videogespräch mit Vallourec-Finanzvorstand Sascha Bibert.Die kolportierte Zahl von 250 Millionen Euro für die soziale Abfederung der Standort-Schließungen bezeichnet Bouarous als „Gerücht“. Die Belegschaft solle sich davon nicht verunsichern lassen.

Gute Jobchancen hätten gelernte Kräfte, Schlosser oder Elektriker etwa, die auch permanent in ihrem Beruf gearbeitet haben, meint Marcus Godoy Tenter. Er und viele andere sind aber in der Adjustage (Zurichtung) beschäftigt. „Wir machen einen Beruf, den es so gar nicht gibt.“ Der 45-Jährige, Vater von drei Kindern, ist seit 27 Jahren bei Vallourec und klingt bitter: „Man hat sich ein Leben aufgebaut … Wir hatten immer zu tun. Ich hatte nie Kurzarbeit. Ich hätte nie gedacht, dass die zumachen.“

Nun heißt die Devise der Betroffenen und der IG Metall: „Wenn es nicht zu ändern ist, dann muss es richtig teuer werden.“