Mülheim. Eier flogen, wüste Beschimpfungen gab es, als sich das Vallourec-Management nun endlich der Belegschaft aus Mülheim und Düsseldorf stellte.

Schockierende Stille herrscht am Freitagmorgen vor dem PSD Bank Dome in Düsseldorf – und wohin man blickt: fassungslose Gesichter. Fast die gesamte Belegschaft von Vallourec aus Mülheim und Düsseldorf ist zur Mitarbeiterversammlung gekommen. Die 2400 Beschäftigten hatten vor zwei Tagen aus der Presse erfahren, dass sie ihre Jobs verlieren.

Die beiden letzten deutschen Werke des Stahlrohrproduzenten werden nun doch nicht verkauft, sondern bis Ende 2023 geschlossen. Darüber will der französische Konzernchef Philippe Guillemot an diesem Morgen informieren. Doch das Management muss sich nicht nur den Fragen und Forderungen von Belegschaft und Betriebsrat stellen – sondern auch ihren lautstarken Attacken standhalten.

Als das Management die Bühne im Dome betritt, folgt auf Stille lautstarker Hass

Als sich um kurz vor 10 Uhr die Türen vom PSD Bank Dome öffnen, füllen sich die Reihen im Stadion sehr schnell. Mit verschränkten Armen warten die Mitarbeitenden auf das Management, das ein paar Minuten später die Bühne betritt. Von jetzt auf gleich ist das eigene Wort nicht mehr zu verstehen. Ein hasserfüllter Chor von Buh-Rufen erfüllt den Saal und der scharfe Klang von Trillerpfeifen untermalt die aufgeheizte Stimmung. Die Pfeifen hatten viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wegen einer vorherigen Personenkontrolle in ihrer Hosentasche hineingeschmuggelt. Taschen waren nicht zugelassen.

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Philippe Guillemot, der Vorstandsvorsitzende und Aufsichtsratschef des französischen Konzerns, will mit seiner Rede beginnen. Aber es ist immer noch so laut, dass sich manche die Ohren zuhalten und er um Ruhe bitten muss. Guillemot fragt auf Englisch mittels einer Übersetzerin: „Können wir anfangen?“ Doch die Belegschaft schreit wutentbrannt zurück. „Nein, lern erst mal Deutsch und verpiss dich!“, ist da noch einer der eher harmloseren Rufe. Viele sind so aufgewühlt, dass sie dem Konzernlenker die übelsten Beleidigungen an den Kopf werfen. Aber nicht nur das: Sie werfen auch mit Eiern, die auf der Bühne vor den Füßen des Managements zerplatzen.

Vallourec-Mitarbeiter versammelten sich am Freitag am Werkstor in Mülheim, um gemeinsam zur Mitarbeiterversammlung nach Düsseldorf zu fahren. Dort entlud sich ihr Zorn.
Vallourec-Mitarbeiter versammelten sich am Freitag am Werkstor in Mülheim, um gemeinsam zur Mitarbeiterversammlung nach Düsseldorf zu fahren. Dort entlud sich ihr Zorn. © Oliver Müller

Der Vallourec-Chef erklärt, warum Werke geschlossen werden

Die gesamte Rede Guillemots, die ungefähr eine dreiviertel Stunde dauert, wird immer wieder davon unterbrochen – und die Enttäuschung der Mitarbeitenden steigert sich währenddessen ins Unermessliche. Denn: Es gibt keinerlei neue Informationen. „Ich bin hier, um Sie persönlich darüber zu informieren, was in den letzten Tagen schon die Runde gemacht hat – und um eine drohende Insolvenz abzuwenden“, sagt Philippe Guillemot.

Dann erklärt er noch einmal: Um das Überleben des international aufgestellten Vallourec-Konzerns zu sichern, sei eine Schließung des Mülheimer und Düsseldorfer Werkes bis Ende 2023 unausweichlich. „Wir haben all unsere Energie und Bemühungen in den Verkaufsprozess gesteckt. Aber wir haben leider nur Angebote von Finanzinvestoren bekommen, deren Verkaufspreis uns nicht überzeugt hat, und auch die Weiterführungskonzepte haben das nicht getan“, so Guillemot.

Die Produktion soll von Deutschland nach Brasilien verlagert werden

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Es sei eine schwierige Entscheidung gewesen und das Management könne die Trauer und die Enttäuschung auf Mitarbeiterseite verstehen. Doch trotz mehrerer Restrukturierungsprogramme hätten die beiden deutschen Standorte in den vergangenen sieben Jahren nur Verluste eingefahren. Ursache dafür seien Überkapazitäten in der Branche und sinkende Margen.

Aber auch die Finanzkrise, die Ölkrise, die Coronakrise und der Krieg in der Ukraine hätten Auswirkungen auf das Geschäft. Hinzu kämen Strafzölle aus China und den USA. Deshalb solle die Produktion der Rohre für Öl- und Gasfelder nun nach Brasilien verlagert werden. Der Saal bebt vor Buh-Rufen. Guillemot fragt: „Was hätte ich machen sollen? Gar nichts, so dass in drei Jahren die Insolvenz folgt, bei der es gar keine Diskussion über Schließungsszenarien gegeben hätte?“ Wieder zerschellen Eier auf der Bühne.

Betriebsrat fordert sozialverträgliche Lösungen - und Antworten, die aber nicht kommen

Als der Betriebsrat das Mikrofon in die Hand nimmt, fordert er lautstark einen Interessensausgleich und sozialverträgliche Lösungen. „Es geht um die Existenz von gesamten Familien“, schreit Betriebsrat Vilson Gegic. „Der einzige Ausweg sind unsere Forderungen! Das ist eine Warnung: Wenn wir keine Sozialverträge bekommen, werden Sie Schwierigkeiten bei der Umsetzung bekommen. Wir haben nichts mehr zu verlieren. Denn wir haben schon alles verloren.“ Jetzt sind Jubelschreie aus der Belegschaft zu hören.

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Doch auf die Aufforderung nach einer Zusage reagiert das Management nicht. Es wird nur auf die Verhandlungen verwiesen, die am Montag starten sollen, und gesagt, man wolle „die Belegschaft fair und mit Respekt behandeln“. In einem späteren Pressegespräch heißt es dazu von Arbeitsdirektor Herbert Schaaff: „Wir werden verhandeln und Kompromisse finden müssen. Klar ist aber, dass wir nicht auf alle Forderungen eingehen können.“

Doch für den Betriebsrat ist klar: „Wir werden unsere Ansprüche nicht reduzieren. Eine Geschichte kann nur geschrieben werden, wenn die Arbeitnehmer am Ende sozial abgewickelt werden, sodass kein Blut an den Standorten hängen bleibt.“

Viele arbeiten seit Jahrzehnten bei Vallourec und fühlen sich verraten

Mesut Kücukarslan (49)
Mesut Kücukarslan (49) © Oliver Müller

Die Mitarbeitenden hatten lange um ihre Jobs gebangt. Bis zuletzt kämpften sie für eine Fortführung der beiden Standorte - mit Demonstrationen, einem Fortführungskonzept und einer Protestaktion in Paris vor der Vallourec-Zentrale. Genützt hat das nichts. Umso größer ist ihre Wut.

„Uns geht es beschissen. Wir haben von der Schließung aus der Presse erfahren und fühlen uns verarscht“, sagt Mesut Kücukarslan. Direkt nach der Schule hatte er seine Lehre zum Energieelektroniker bei Vallourec (damals noch Mannesmann) begonnen – 32 Jahre später plagt ihn die Existenzangst. „Ich muss einen anderen Job finden, aber ich bin zu alt für den Arbeitsmarkt. Ich weiß nicht, wie ich mein Haus abbezahlen soll“, erzählt der 49-Jährige.

„Die gesamte Region wird durch den Verlust der Industrie kaputtgehen“

Hüseyin Yigit ist schon seit 42 Jahren bei Vallourec als Kranführer tätig. Davor war sein Vater schon im Unternehmen tätig und auch sein Sohn arbeitet bei Vallourec. „Alles wird nach Brasilien verlagert, nur weil die Löhne dort niedriger sind. Das ist absolut unverschämt“, sagt der 61-Jährige.

Guido Bruns (57)
Guido Bruns (57) © Oliver Müller

Einem Kollegen von ihm geht es ähnlich. „Ich spüre so viel Wut und so viel Hass. Das kann ich nicht in Worte fassen. Wenn ich darüber rede, kocht es schon wieder bei mir hoch“, sagt Guido Bruns. Auch der 57-Jährige ist schon sein ganzes Leben im Unternehmen. Vor 40 Jahren hat er dort seine Lehre zum Maschinenschlosser gemacht. Seine Meinung zum Aus der beiden Werke ist deutlich: „Was die Franzosen hier abziehen, ist einfach nur pervers. Nicht nur die Arbeitsplätze sind weg. Die gesamte Region wird durch den Verlust der Industrie kaputtgehen.“