Mülheim. Das Vallourec-Aus mit 2400 Mitarbeitern hat Mülheims OB Marc Buchholz veranlasst, einen Hilferuf an Bundeskanzler Scholz zu adressieren.

In großer Allianz reagieren Mülheims Ratsfraktionen und -gruppen auf die für Ende 2023 angekündigte Schließung des Werkes von Stahlrohr-Produzent Vallourec und den Verlust von rund 750 Arbeitsplätzen vor Ort. Nicht nur der Wirtschaftsausschuss bekundete seine Solidarität und legte fest, wie Stadtverwaltung und Politik aktiv werden wollen. OB Buchholz adressierte darüber hinaus einen Hilferuf an Bundeskanzler Olaf Scholz.

In dem eineinhalbseitigen Schreiben, das dieser Redaktion vorliegt, bittet Mülheims OB den Bundeskanzler „ebenso herzlich wie eindringlich, sich seitens der Bundesregierung, wenn möglich, kurzfristig unterstützend und moderierend einzuschalten und wie wir die Standorte und die Menschen nicht aufzugeben“.

Mülheims OB: Stahlproduktion ist immer noch eine Schlüsseltechnologie

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Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Und doch hatte das Vallourec-Management die am Mittwoch getroffene Entscheidung, die Stahlrohrproduktion in Deutschland samt 2400 Arbeitsplätzen in Düsseldorf und Mülheim aufzugeben, unmissverständlich und als Ultima Ratio dargestellt. Gehe man nach den gescheiterten Verkaufsbemühungen diesen Schritt nicht, so hatte Konzernchef Philippe Guillemot am Freitag bei der Mitarbeiterversammlung noch einmal betont, riskiere man mit der verlustreichen deutschen Produktion die wirtschaftliche Existenz des gesamten Konzerns.

OB Buchholz appelliert nun an Bundeskanzler Scholz, sich die Bedeutung der Vallourec-Entscheidung für den Industriestandort vor Augen zu führen. Das Vallourec-Aus habe auch Auswirkungen auf die Zulieferindustrie, nennt der OB explizit die Duisburger Hüttenwerke Krupp Mannesmann (HKM). Die Stahlproduktion sei „noch immer eine Schlüsseltechnologie“.

OB: Energiewirtschaft darf nicht abhängig sein von Zulieferungen aus dem Ausland

Die bislang in Mülheim produzierten nahtlosen Stahlrohre könnten eine wichtige Rolle spielen, ja systemrelevant sein bei der Weiterentwicklung der deutschen Industrie im Kontext einer Wasserstoff-Strategie oder für CO2-Pipelines. „Der notwendige Umbau der Energiewirtschaft sollte nicht von Rohrzulieferungen aus dem Ausland, hergestellt unter kritischen Arbeitsbedingungen und vernachlässigten Umweltstandards, abhängen“, gibt Buchholz dem Bundeskanzler zu bedenken.

Auch Mülheims Politik glaubt offenkundig, an der Konzern-Entscheidung noch rütteln zu können. Der Wirtschaftsausschuss bekräftigte dies am Freitag einstimmig zu einem interfraktionellen Antrag von CDU, Grünen, SPD und FDP. So bringen die Fraktionen trotz der klaren Haltung der Konzernleitung noch einmal das Fortführungskonzept der Arbeitnehmerseite ins Spiel. Vielleicht lasse es sich mit Unterstützung und finanzieller Beteiligung durch die Landes- und Bundesregierung doch noch umsetzen, heißt es.

Bakum (SPD) fragt: Was hat Mülheims OB in den Monaten seit November unternommen?

Einen Anflug von Zweifel, ob sich Mülheims OB in den vergangenen Monaten genug ins Zeug gelegt habe, um womöglich Hilfen von Bund und Land an Vallourec zu vermitteln, streute der frisch gewählte SPD-Landtagsabgeordnete Rodion Bakum, als er fragte, was der OB unternommen habe, „warum die Unterstützung nicht zum Tragen gekommen ist, was hätte besser laufen können“.

Der OB war selbst nicht zugegen, sondern noch auf der Rückreise aus der französischen Partnerstadt Tours. Wirtschaftsdezernent Felix Blasch konnte da ad hoc kein Protokoll vorlegen, bekräftigte aber: „Der OB hat in etlichen Terminen mit seinem Düsseldorfer Amtskollegen Keller versucht, auf das Unternehmen einzuwirken.“ Es sei „reine Spekulation“, zu bewerten, warum das Vallourec-Management die möglichen Staatshilfen für energieintensive Produktionsbetriebe nicht für sich in Betracht gezogen hätte.

Hinter vorgehaltener Hand wird kolportiert, die Vallourec-Führung habe in der Frage auch Bundes- und Landesregierung abblitzen lassen. Das Unternehmen habe sich lediglich auf einen Gesprächstermin eingelassen. OB Buchholz äußerte sich dazu im Gespräch mit der Redaktion so: „Es macht mich persönlich sehr traurig, dass es nicht ernsthaft um die Frage gegangen ist, wie Bund und Land hätten eingreifen können.“ Auch 400 Arbeitsplätze in Frankreich würden infolge der deutschen Werksschließungen wegfallen. Sein OB-Kollege von Tours wolle in dieser Sache seine Kontakte zum französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron spielen lassen, setzt Buchholz auch noch mal auf Druck innerhalb Frankreichs.

SPD fordert erneut Wiederbelebung der Industriekonferenz – Dezernent blockt

Die Ratsfraktionen brachten am Freitag ihre „große Betroffenheit“ über die Konzern-Entscheidung zum Ausdruck. Politik und Verwaltung würden „alles in ihrer Möglichkeit stehende unternehmen, um die von der Schließung der Werke betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu unterstützen“, heißt es in einer Solidaritätsnote.

Mülheims Politik strebt an, dass in engster Abstimmung der beiden betroffenen Städte Mülheim und Düsseldorf ein intensiver Austausch mit Betriebsrat und Gewerkschaft stattfindet, um eine soziale Abfederung des Stellenabbaus „bestmöglich zu unterstützen“. Wirtschaftsdezernent Blasch blieb auf mehrfaches Nachhaken der SPD allerdings vage, ob die Stadtverwaltung daran denkt, das Format einer Industriekonferenz wiederzubeleben. Vielmehr ließ er deutlich durchblicken, dass die Stadtspitze eher anstrebe, ein Gesprächsformat zur Zukunft des Wirtschaftsstandortes Mülheim, der in den vergangenen Jahren etliche Arbeitsplätze im Industriesektor verloren hat, auf eine breitere Basis zu stellen. „Mülheim“, so Blasch, „besteht nicht nur aus Industrie.“

Fraktionen wollen Mülheimer Vallourec-Fläche als Industriegebiet gesichert sehen

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Einhellig fordern die Fraktionen, die Möglichkeiten für eine Transfer- und Qualifizierungsgesellschaft in Zusammenarbeit mit der Agentur für Arbeit für die Beschäftigten der Vallourec-Werke intensiv zu prüfen, darüber hinaus eine „Transformationsagentur“ in Kooperation mit der Landesregierung. Sie könne der schnellen Arbeitsmarktvermittlung dienen, ebenso der Moderation von betrieblicher Fachkräftesicherung und Koordination von beruflicher (Weiter-)Qualifizierung.

Die Politik will fortlaufend informiert werden. Zum geplanten Vorkaufsrecht, das sich die Stadt für die 35 Hektar große Vallourec-Fläche sichern will, fordern die Fraktionen auch die Festlegung, dass Industrie und verarbeitendes Gewerbe ausdrücklich Bestandteil eines Nachnutzungskonzeptes sein sollen. In einem Bebauungsplan solle die Fläche als Industriegebiet gesichert, Logistik-Ansiedlungen sollen ausgeschlossen werden.