Mülheim. Unter massiven Sicherheitsvorkehrungen hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) in Mülheim Wahlkampf gemacht. Die Bilanz des Tages.
Bundesprominenz war zum Gesundheitsfest der SPD in der Alten Dreherei angekündigt: Der Besuch von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sorgte allerdings wegen angemeldeter wie unangemeldeter Demonstrationen im Umfeld für einen massiven Einsatz von Sicherheitskräften.
Die unter dem Titel „Unabhängigkeit von der Pharmalobby – gegen Panikmache und für eine selbstbestimmte Gesundheitsvorsorge“ angemeldete Demonstration sorgte bereits zum Festauftakt für viel Aufruhr auf dem angrenzenden Radschnellweg. Ein Durchqueren glich beinahe einem Spießrutenlauf, zumal einige Redebeiträge den Tenor dieser Demonstration augenblicklich klarmachten. „Wir Querdenker sollen ja selbstgerecht sein. Jesus war auch selbstgerecht. Galileo Galilei, Martin Luther, alle selbstgerecht.“
300 Demonstrierende in lautstarker Kakophonie: „Lauterbach – in den Knast!“
Nach Polizeiangaben hatten sich in der Spitze rund 300 Demonstrierende versammelt. Sie skandierten schon eine Stunde vor Lauterbachs Eintreffen permanent „Lauterbach – in den Knast!“ oder „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten“. Dazu ertönten viele Trillerpfeifen, gab’s Megafon-Einsätze mit kaum verständlichen Worten sowie extrem laute Musik. Die Polizei sah sich gezwungen, die Demonstranten, die der Querdenker-Szene zugeordnet wurden, ein paarmal aufzufordern, „die Lautstärke zu reduzieren“, um die Veranstaltung von SPD-Landtagskandidat Rodion Bakum mit Minister Lauterbach nicht zu stören.
Wegen der erhöhten Sicherheitsmaßnahmen und Absperrungen hatten Besucherinnen und Besucher der SPD-Veranstaltung Schwierigkeiten, überhaupt zur Alten Dreherei zu gelangen. Die SPD selbst hatte einen Sicherheitsdienst engagiert, das Bundeskriminalamt war vor Ort, Personenschützer, Spürhunde. Einige Demonstranten versuchten vergeblich, an Sicherheitskräften vorbei in die Alte Dreherei zu gelangen. Diese wiesen auch eine Handvoll Menschen ab, die vorgaben, die Veranstaltung etwa für „Klardenken TV“ journalistisch begleiten zu wollen. Um eine nötige Akkreditierung hatten sie sich im Vorfeld offenbar nicht bemüht.
Gesundheitsminister Lauterbach mit einigen Rück- und Seitenbeugen
Als Lauterbach bei strahlendem Sonnenschein pünktlich eintraf, konnte die Demonstration nicht an Lautstärke zulegen – sie hatte ihr Maximum längst ausgereizt. Der Bundesgesundheitsminister gab sich unbeeindruckt, schrieb in seiner unprätentiösen Art Autogramme, stellte sich für Selfies zur Verfügung und absolvierte dann erst mal eine Runde zu den einzelnen Ständen des Fests.
Am Eingang abgetastet, empfing die Besucher im Inneren der Dreherei ein Duft von frisch gebackenen Dinkelwaffeln. Auch Leberwurst- und Käsebrote lagen zum Verzehr bereit – salzarmes Brot, Lauterbach soll Fan davon sein. Das Fest selbst bestand aus diversen, mit der Awo organisierten Gesundheits-Ständen, zum Beispiel einer kleinen Tischtennisplatte oder einem Balance-Board als Fitness-Anregung. Alles für mehr Bewegung und somit für die Gesundheit, wie auch die Chance, unter erfahrener Leitung der Yoga-Lehrerin Rita Rossmannek aus Broich zu meditieren. Lauterbach begnügte sich aus Zeitmangel mit Dehnübungen sowie Rück- und Seitenbeugen.
Lauterbach hadert nach seinen „harten Wochen“ mit gescheiterter Impfpflicht
Eine Stunde Zeit hatte die SPD für eine offene Gesprächsrunde eingeplant. Zunächst plauderte der Mülheimer Landtagskandidat Rodion Bakum mit Lauterbach auf dem roten Sofa alleine und beleuchtete die zum Teil schwerwiegenden Entscheidungen der zurückliegenden „harten Woche“, wie Bakum sich ausdrückte. Lauterbach wiederholte, er hätte sich „gewünscht, die Impfpflicht durchzukriegen“, was mit viel Applaus quittiert wurde.
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Wie zu erwarten, drehte sich das Gespräch zunächst hauptsächlich um Covid-19, so fragte Bakum etwa nach Plänen für unterschiedliche Szenarien im Herbst. Lauterbach bleibt in Habachtstellung: „Von der Art der Variante hängt es ab. . .“
Dramatischer Pflege- und Ärztemangel droht: Lauterbach will gegensteuern
Den größten Gesprächsanteil aber nahm das Thema Pflegemangel ein, auch bei der Arbeit mit Behinderten oder in der ambulanten Pflege. Lauterbach prognostizierte, daraus könne bald ein Pflegenotstand werden, wenn nicht gegengesteuert werde, was er vorhabe. Das Gleiche gelte für den sich jetzt schon abzeichnenden Ärztemangel. Schon deshalb, führte Lauterbach unter Applaus und Gelächter aus, wünsche er sich einen Regierungswechsel in NRW: Schließlich sei die notwendige Schaffung von mehr Medizin-Studienplätzen Ländersache. NRW sperre sich aber dagegen, Geld in die Hand zu nehmen.
Systemisch sieht Lauterbach viele Probleme, auch beim immer wiederkehrenden Thema Psychotherapie – ein Komplex, der auch Bakum am Herzen liegt, zumal der Bedarf seit Corona deutlich zulegte. Auch der Bereich Gesundheitsversorgung nahm viel Raum ein, sowohl im ländlichen Raum als auch angesichts der Flut an Privatisierungen, die Lauterbach allerdings auf spezielle Fachbereiche begrenzt sieht. Bakum plauderte in eigener Sache, als es um private Krankenhausträger ging: „Fluch und Segen zugleich. Nicht alles gut, aber auch nicht alles schlecht.“ Präzise benannte Lauterbach mit „Gewinnorientierung“ versus „Bedarfsorientierung“ die entscheidenden Parameter.
180 Demonstranten wollten Abfahrt des Ministers blockieren
Nach zahlreichen Selfies verließ Lauterbach Mülheim wieder – ohne dass die Demonstranten sich ein weiteres Scharmützel verkniffen. Ein Teil von ihnen, die Polizei sprach von rund 180 Personen, war zwischenzeitlich zur Duisburger Straße gelaufen, um offenbar die Abfahrt des Gesundheitsministers zu blockieren. Die Polizei löste die unangemeldete Versammlung auf und fertigte eine Strafanzeige.
Später schlossen sich einige der Demonstranten von der Alten Dreherei einem offenbar aus dem Umfeld der Mülheimer Montagsspaziergänger angemeldeten Protestzug vom Stadthallen-Parkplatz durch Broich an. Die Gruppe von circa 60 Teilnehmern war aber so klein, dass ein Großteil der nach Mülheim beorderten Hundertschaften frühzeitig ihren Einsatz beendete. (mit sto)