Mülheim. Harte Nüsse hatte Bezirksbürgermeisterin Britta Stalleicken für ihren Mülheimer Bezirk 1 zu knacken. Was Sie sich für 2022 vorgenommen hat.
Vor einem Jahr gab Britta Stalleicken ihr Debüt als grüne Bezirksbürgermeisterin für die Bezirksvertretung 1 (Innenstadt, Menden-Holthausen, Heißen) mit Strauß und Maske. Ungelöste Probleme und harte Nüsse warteten dort: der totpolitisierte Rathausmarkt, der Zoff ums Anwohnerparken und Lkw-Verbot, ein Entwurf zur Kahlenberg-Plattform, der einige Bürger irritiert hat. Wie lief das Jahr auf dem politischen Parcours für die frühere Bürgerinitiativlerin?
Frau Stalleicken: Das erste Foto zu ihrem Amtsantritt 2020 zeigt Sie mit Strauß und Maske. Haben Sie gedacht, dass Sie die nach einem Jahr immer noch tragen müssen?
Blumenstrauß und Maske – für mich ist das ein Bildnis, das beides zusammenbringt. Natur in ihren positiven wie negativen Ausrichtungen. Das Virus trifft die Gesellschaften, Regierungen, Institutionen, Unternehmen, jeden Einzelnen in einem Ausmaß, das schwerwiegende Folgen von Leid und Angst mit sich bringt.
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Die Krisenauswirkung in Bereichen der Ökonomie, Politik, dem Gesundheitswesen, Bildung, unserem gesellschaftlichen Zusammenleben führt uns sowohl im unmittelbaren Umfeld als auch global vor Augen, wie sehr wir Menschen voneinander abhängig sind, welche unmittelbaren Folgen Individualhandeln haben kann, wie fragil und unsicher unsere soziale Welt, die eigenen Existenz doch ist. Unabhängig davon, ob man Angst um sich selbst oder andere hat, genervt ist oder nun davorsteht, sein Leben umorganisieren zu müssen, dürfen wir berechtigte Hoffnung haben, dass wir gemeinsam als Gesellschaft lernen, damit umzugehen, die richtigen Fragen stellen: Wie möchten wir unser Zusammenleben organisieren, nach welchen Werten soll es gestaltet sein?
Die Mülheimer Gesellschaft hat sich leise in den Impfzentren entschieden, sich und andere zu schützen. Die Lauten machen dagegen weitestgehend ohne Abstand und Maskenschutz „Spaziergänge“ auf der Straße. Besorgt Sie das?
Das Demonstrationsrecht ist ein Grundrecht und in Deutschland im Artikel 8 des Grundgesetzes festgeschrieben. Impfgegner-Versammlungen, Spaziergänge sind legitim. Die Impfgegner-Argumente, getragen durch laute Stimmen, werden inhaltlich für mich nicht überzeugender. Besorgniserregend finde ich daher eher die steigenden Infektionszahlen, die aus Versammlungen hervorgehen können. Wir alle müssen abwägen: Entweder lasse ich mich impfen, trage Maske, halte Abstandsregeln ein – oder ich erkranke mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit. Wie die eigene Corona-Erkrankung verläuft, lässt sich nicht abschätzen. Natürlich kann sie mild verlaufen, aber sie kann auch elend ausgehen. Womöglich stecke ich andere an, die vielleicht schwer erkranken werden oder sterben. Die Bilder von Intensivstationen geben maximalen Anlass zur Sorge.
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Sie kommen aus der Bürgerinitiative und sitzen denen als Bezirksbürgermeisterin jetzt oft gegenüber. Wie haben Sie den Wechsel in die parlamentarische Politik erlebt?
Ich glaube, es gibt kein Gegenüber, sondern ein Miteinander im gemeinsamen Austausch, durchaus mit erweiterten Einblicken, Erfahrungen durch wechselnde Positionen.
Was hat Sie bislang an ihrer neuen Rolle überrascht und was gefällt ihnen daran?
Eigentlich birgt meine neu bezogene Aufgabe keine Überraschungen. Parlamentarische Demokratie bedeutet, Kompromisse zu finden. Um gute kommunale Lösungsergebnisse erarbeiten zu können, nehme ich gerne die breite Meinungsvielfalt aller politischen Kräfte wahr und schätze eine sachorientierte, kompromissfähige Debattenkultur, zum Wohle unserer Stadtentwicklung.
Sie sind nicht nur Bezirksbürgermeisterin, sondern auch Grüne und in einer Koalition: Wie schwer fällt der Ausschussvorsitzenden die politische Ausgewogenheit in den Sitzungen?
Die sachliche Sitzungsleitung in der Bezirksvertretung ist nicht nur geboten, sondern führt in der Regel zu einem Zusammenspiel der politischen Kräfte, wo Sachverhalte, Meinungen im Abwägungsprozess in wertschätzender Debattenkultur ausgetragen werden. Das Phänomen einer starken Lagerbildung, welche Kompromisslosigkeit der regierenden Mehrheit begünstigt, nehme ich aktuell in der Bezirksvertretung 1 nicht wahr. Ich folge dem Grundsatz, dass Suchen und Finden von Kompromissen nicht zu einer ‚Entzauberung‘, sondern bestenfalls zu einer gemeinsamen tragfähigen Lösung führt.
Das klingt sehr fair und harmonisch. Zur Demokratie gehört aber auch die Auseinandersetzung zwischen Koalition und Opposition. Am Ende haben die einen die Stimmenmehrheit, aber nicht unbedingt die bessere Idee. Zum Beispiel bei der Schaffung neuer Stellen.
Die Vorstellung, dass sich komplexe Probleme auf einfache Lösungen reduzieren lassen, sollte man anzweifeln. In unseren Debatten wählen wir den komplizierten und anspruchsvollen Weg der demokratischen Konfliktaustragung, inhaltlich kontrovers geführt, im fairen, sachlichen Austausch. Mehrheiten versammeln sich hinter versprechenden guten Lösungsideen. Minderheit oder Opposition hat bei künftiger Abstimmung die Chance, argumentativ zu überzeugen, um die Mehrheit zu erringen.
Ihre Sitzungen sind prall gefüllt – unter drei Stunden kommt man selten raus. Man hat aber das Gefühl, Sie wollen richtig anpacken.
Demokratie muss sensibel und offen gelebt werden. Das setzt für mich wiederum eine bestimmte Weise voraus, wie die jeweiligen politischen Kräfte gehört werden. Auch die Positionen einer Minderheit können in Teilen richtig sein – auch die Mehrheit hat ja ebenfalls nur in Teilen recht. Und wenn sie einem bestimmten Meinungsbild in der Bevölkerung entsprechen, sollen sie auch gehört und berücksichtigt werden. Keine politische Richtung könnte für sich das alleinige Recht „der Wahrheit“ in Anspruch nehmen.
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In parteiübergreifenden, fähig ausgehandelten Beschlüssen sehe ich die bestmögliche Umsetzung eines demokratischen Mehrheitsentschlusses, mit einer hohen Tragfähigkeit in der Realumsetzung zum Wohle unserer Stadtgesellschaft. Das sagte ich bereits. Alle politischen Vertreterinnen und Vertreter haben die Aufgabe der Stadtgestaltung nach freiem Wunsch gewählt und genau so engagiert nehme ich jede und jeden Anwesenden auch in lang andauernden Sitzungen wahr. Daher nehmen wir uns in den öffentlich geführten Debatten und den Beschlussfassungen der BV 1 gemeinsam den nötigen Raum und Zeit – und das ist gut so.
Die BV 1 muss die wohl härtesten Nüsse knacken: Streit über die Aussichtsplattform Kahlenberg, das halbherzige Anwohnerparken, der kritisierte neue Bahnhofsvorplatz, das Hickhack um den Rathausmarkt. Bei welchem Thema lief es aus ihrer Sicht gut, wo haben Sie sich geärgert?
Ich kann explizit kein Thema ausmachen, bei dem ich einen reinen negativen Verlauf festmachen würde. Und ich denke, dass alle drei Bezirksvertretungen im gleichen Maße herausfordernde Sachlagen zu lösen haben. Wenn ich für die BV 1 sprechen kann, dann verbleiben Entscheidungen, verbunden mit einer hohen Komplexität, bisweilen etwas länger in der Diskussions-Pipeline. Manche Entwicklungen lassen sich auch nicht ausschließlich in theoretischen Planungen exakt voraussagen. In diesen Fällen legen wir in der Beschlussfassung einen Erprobungszeitraum mit Evaluierungsabschluss fest. Von Pro bis Contra gehen viele Reaktionen ein und das ist für ein breitgefächertes Evaluierungs- und Anpassungsverfahren sehr bedeutsam. Gut laufende Themen sind mehrheitlich beschlossen und befinden sich in der Umsetzung.
Was muss 2022 aus ihrer Sicht gelöst werden?
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Es gibt eine Menge Themen: stadtresilienter Ausbau, Begrünung, Energetische Sanierung, Mobilitätswende, regionale Agrarausgestaltung, Katastrophen- und Hochwasserschutz, ökologische- und Wirtschaftspotenziale gemeinsam entwickeln, die Innenstadtbelebung, soziale Brennpunkte im Fokus halten.
Haben Sie noch Zeit für Privates? Und was machen Sie dann?
Zeit für Privates bleibt wenig, aber ich fühle mich sehr wohl. Wenn diese Grundlage nicht gegeben wäre, würde ich etwas ändern.
Neujahrsfrage: Welchen guten Vorsatz haben Sie sich für 2022 vorgenommen?
Wach und offen durch die Welt gehen, neugierig bleiben. Trotz aktueller Sorgen und Trauer, die unsere aktuelle pandemische Lage mit sich bringt, Zuversicht und Lebensfreude Raum zu geben.