Mülheim. Nach der brutalen Attacke auf dem Radschnellweg steht ein Mülheimer vor Gericht. Das Opfer aus Essen ist weiterhin in erbarmungswürdigem Zustand.
Es waren dramatische Momente, die eine Oberkommissarin am Morgen des 21. Mai auf dem Radschnellweg erlebte. Ein Notruf war kurz zuvor bei der Mülheimer Polizei eingegangen, von einer aufgeregten Frau, die davon berichtete, wie ein brutaler Mann auf der Trasse immer und immer wieder auf einen älteren, wohl schon bewusstlosen Fußgänger einschlug. Als die 35-jährige Polizistin Minuten später beim Opfer war, um erste Hilfe zu leisten – den Tatverdächtigen hatten ihre Kollegen da bereits festgesetzt –, war sie schockiert: „Der Mann war in einem schlimmen Zustand. Seine Augen waren trüb und alles am Kopf wirkte gebrochen. Aus Mund und Nase drang viel Blut.“
Die Oberkommissarin wirkte auch im Zeugenstand beim Prozessauftakt am Mittwoch gegen den mutmaßlichen Schläger noch mitgenommen. Sie erkundigte sich beim Duisburger Schwurgericht, wie es dem alten Mann mittlerweile geht. Die traurige Antwort: „Noch immer sehr schlecht.“
„Er hat dramatisch versucht, Luft zu holen“, erzählte eine Polizistin, die ihm helfen wollte
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Die Attacke aus heiterem Himmel und das Martyrium, das der 80-jährige Essener seither durchlebt, entsetzt Mülheimer und Essener nachhaltig. Die Polizistin hatte dem in Lebensgefahr schwebenden Mann versucht, beim Atmen zu helfen, bis der Notarzt kam. „Er hat dramatisch versucht, Luft zu holen“, und so habe sie versucht, seinen Unterkiefer nach unten zu drücken, „damit irgendwie Luft in den Körper kommt“. Reagiert habe der Versehrte nicht auf sie. „Ich habe ihm gesagt, dass wir jetzt da sind und ihm helfen – ob er das gehört hat, weiß ich nicht.“
Bis heute ist unklar, ob er überhaupt etwas versteht, hatte der Betreuer (62) vorab berichtet. „Als ich ihn vor einigen Wochen das erste Mal gesehen habe, war er wach, aber kommunizieren kann man nicht mit ihm.“ Der Essener, der nach Wochen in Krankenhaus und Reha ohne nennenswerte Fortschritte mittlerweile in einer Intensivpflege-Einrichtung versorgt wird, braucht in allen Lebensbereichen Hilfe. Er wird nach wie vor über eine Magensonde ernährt und seine rechte Körperhälfte ist gelähmt. „Es war erschreckend ihn so zu sehen, zumal er bis zur Tat fit gewesen sein soll.“ Der Mann sei keinesfalls in der Lage, am Prozess teilzunehmen. Das ließen auch die Schilderungen mehrere Ärzte vermuten, die von schlimmsten Verletzungen am Kopf und am Oberkörper berichteten. Folge der Attacke soll auch ein heftiger Schlaganfall gewesen sein.
Staatsanwaltschaft spricht von versuchtem Mord aus Heimtücke
Die Richter der fünften Strafkammer müssen also ohne Aussage des wichtigsten Zeugen zurechtkommen. Laut Staatsanwaltschaft ist ein 37-jährige Mülheimer an dessen Schicksal schuld. Seine Attacke sei als versuchter Mord aus Heimtücke und gefährliche Körperverletzung zu werten. Der betagte Spaziergänger nämlich habe an jenem Frühlingsmorgen mit keinerlei Angriff gerechnet, sei arg- und wehrlos gewesen.
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Da der Mülheimer laut mehrerer Gutachten zur Tatzeit wegen einer „fluiden, paranoiden Schizophrenie“ schuldunfähig gewesen sein soll, findet vor Gericht ein Sicherungsverfahren statt: Ziel der Staatsanwaltschaft ist es, ihn langfristig in einer Klinik für psychisch kranke Straftäter unterzubringen.
Vor Gericht fallen Sätze, die den Zuhörer ratlos zurücklassen
Der Beschuldigte bestreitet alle Vorwürfe und behauptet, der 80-Jährige sei auf ihn losgegangen. „Er ist zwar älter, aber er ist kräftig und stark. Ich wollte mich nur verteidigen.“ Er habe den Mann „angefleht“, ihn loszulassen, „und dann, in meiner Verzweiflung, habe ich ihn weggeschubst und einmal geschlagen“. Der Mann sei daraufhin gleich zu Boden gegangen.
Vor Gericht sagt der Beschuldigte auch Sätze, die den Zuhörer ratlos zurücklassen: So erzählt er von einer Frau, die er während des Zweikampfs plötzlich vor sich gesehen habe und mit der er unbedingt „Geschlechtsverkehr“ haben wollte.
Mutter des Beschuldigten soll ebenfalls psychisch krank gewesen sein
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Wenig später wird seine Lebensgeschichte erörtert: Demnach ist der Mülheimer seit rund zehn Jahren psychisch krank, wurde mehrfach stationär behandelt und muss Medikamente einnehmen. Zwei Wochen vor dem Vorfall auf dem Radschnellweg habe er diese abgesetzt. Schon früh soll er mit psychischen Krankheiten zu tun gehabt haben: Seine Mutter sei auch betroffen gewesen. Sie habe sich das Leben genommen, als er zwei Jahre alt war.
Im Libanon ist er aufgewachsen, in armen Verhältnissen, und er sei oft geschlagen worden. 2006 hat er das Land verlassen, in den kommenden Jahren in mehreren deutschen Städten gelebt und studiert, darunter auch in Mülheim. Irgendwann sei das wegen der Krankheit nicht mehr möglich gewesen. „Ich habe immer wieder Stimmen gehört. Eine Frau, ein Mann und ein Kind. Die haben schlimme Sachen gesagt. Die männliche Stimme klang wie die des Teufels.“
„Er saß im Schneidersitz auf dem Boden und war total entspannt“
Ein Polizist (28), der bei der Festnahme dabei war, berichtete dem Gericht, wie er den Beschuldigten erlebte: „Er saß im Schneidersitz auf dem Boden und war total entspannt. So, als ob nichts gewesen sei.“ Ein Kollege (27) nannte ihn „apathisch“, aber auch „konfus“. Den Beamten seien „rötlich-braune Anhaftungen“ an Hand, Schuhen und Gesicht aufgefallen. Die Vermutung, dass es Blut war, habe nahe gelegen. Doch der Beschuldigte habe nur gesagt, die Flecken seien „wohl aus dem Himmel gekommen“.
Mutige Studentin ermöglicht Festnahme des Tatverdächtigen
Ohne die Zeugin, die die Polizei alarmiert hat, hätte der Angreifer womöglich noch länger zugeschlagen. Die Studentin aus Essen war am Tattag mit dem Rad unterwegs und sah schon von weitem, „wie ein Mann unbeirrt immer wieder auf etwas einschlug“. Dass es kein Gegenstand war, sondern ein Mensch, erkannte sie nicht direkt.
Die 30-Jährige versuchte lautstark, den „hemmungslosen“ Schläger von seinem Tun abzubringen. Erst als sie die Polizei am Handy hatte, aber habe er vom Opfer abgelassen und sei „ruhig“ Richtung Hauptbahnhof gegangen.
Die Zeugin folgte ihm und dirigierte die Polizisten per Telefon und Handzeichen zum Tatverdächtigen. Dieser habe auf sie gewirkt, „als ob er unter Drogen steht“.
Besagte, rechte Hand war nach dem Vorfall übrigens stark geschwollen und stellte sich später als gebrochen heraus. Es soll die Schlaghand gewesen sein. Eine Rechtsmedizinerin, die sich sowohl mit dieser als auch mit den vielfältigen „akut lebensbedrohlichen“ Verletzungen des Opfers beschäftigt hat, machte vor Gericht eine klare Aussage: „Die Verletzungen der Männer passen aus medizinischer Sicht zu 100 Prozent zusammen.“ Die brutalen Faustschläge könnten vom Beschuldigten ausgegangen sein. „Dazu passen auch die Blutspuren.“