Mülheim. Streetworker Thomas Böhm erklärt bei einem Rundgang durch Mülheim Graffiti als Ausdruck der Jugendkultur. Er interpretiert, aber bewertet nicht.

Das eindrucksvolle Graffito an Mülheims ehemaligem Frauengefängnis bildet am Samstag den Startpunkt des von Thomas Böhm geleiteten Graffiti-Rundgangs vom Mülheimer Geschichtsverein. Doch Böhms Interesse richtet sich schnell auf die Schrift daneben: „Oury Yalloh von Bullen ermordet!“ Der Name, zeitweise ersetzt durch George Floyd, schreit in wütendem Protest das Anliegen des Sprayers heraus.

Wahrgenommen zu werden, Anerkennung zu gewinnen, herauszustechen aus der Anonymität der Großstadt, womöglich berühmt zu werden, dabei dennoch anonym zu bleiben, das ist der Ursprung der in den USA entstehenden Hip-Hop Subkultur, die der Mülheimer Streetworker Thomas Böhm kurz erläutert. Dabei liegt das Wesen von Hip-Hop mit seinen Ausdrucksformen Graffiti, Breakdance, DJ und Rap in der Einfachheit der Mittel. Es konzentriert sich auf die Fähigkeit des Einzelnen, benötigt kein teures Equipment, ist aber auch angewiesen und ausgelegt auf eine Gemeinschaft.

Individuelle Ausdrucksform und gemeinschaftsfördernd zugleich

Mit einem von Böhm versiert zusammengestellten Youtube-Kanal vermitteln die Musikvideos das Lebensgefühl der frustrierten Jugendlichen und begleiten den interessanten eineinhalbstündigen Rundgang emotional. Das Graffiti Taki 183 erregte einst in den 1960ern großes mediales Aufsehen. Der prägnante Tag des griechischen, damals 17-jährigen Botenjungen in New York setzte Maßstäbe. Prägnanz ist gefordert: Ein kurzer Name, dazu eine Zahl x. 183 war die Hausnummer des Griechen.

Der Streetworker Thomas Böhm erläuterte bei der Graffiti-Führung des Mülheimer Geschichtsvereins auch gesprayte Botschaften unter der Konrad-Adenauer-Brücke.
Der Streetworker Thomas Böhm erläuterte bei der Graffiti-Führung des Mülheimer Geschichtsvereins auch gesprayte Botschaften unter der Konrad-Adenauer-Brücke. © FUNKE Foto Services | Oliver Müller

Ähnlich ärmliche Verhältnisse, wütende, perspektivlose Jugendliche, die sich gern mit überspitzten Schmähworten in Fäkalsprache Luft machten, das wies der Ruhrpott ebenfalls auf. Die Dortmunder Graffiti-Szene avancierte in den 1980ern gar zum europäischen Zentrum. Ihr gelang es, mit einfachen, besonders sauber ausgeführten und eindringlichen Graffiti auf allen Nahverkehrszügen sowie allen Flächen in Bahnhofsnähe sogar ein Heimatgefühl zu schaffen. Das gilt auch für Mülheim. „Wenn ich das Graffito vom Zug aus sehe, weiß ich, ich bin zu Hause“, sagt Böhm, und alle nicken verstehend.

Graffiti schaffen Heimatgefühle – auch im Ruhrgebiet

Eine Verbundenheit mit dem Ruhrpott zeigt Böhm anhand eines Graffiti unter der Nordbrücke. An einem zur Ruhr gelegenen runden Brückenpfeiler stellt das exzellent ausgeführte Tag eR mit der eingearbeiteten Zahl 45 Heimatbezüge her, mit Bezug zur Postleitzahl. 2017 dagegen verweist auf das Entstehungsjahr. In den Komplementärfarben Orange und Grün gehalten, belegt eR mit den raffinierten Details sein Können und eine eigene, herausgearbeitete Ästhetik. Scharf abgesetzte schwarze Umrandung, nach oben ausgerichtete, Spannung erzeugende Kapitälchen, dazu Bläschenverzierungen und die durchdachte Liniengestaltung, das beeindruckt. Nicht nur die beiden Jungs, die aufmerksam zuhören.

Den Zeitaufwand für den langen LOKI-Schriftzug gegenüber schätzt Böhm auf etwa drei Minuten. „Wenn sie zu zweit waren. Einer passt auf, der andere sprayt.“ Es muss ja schnell gehen, schließlich ist Graffiti Sachbeschädigung. Inzwischen ist LOKI von SECO übertrumpft worden, entgegen dem Graffiti-Ehrenkodex. „Die verstehen sich wohl nicht“.

Interpretation einer Situation am Mülheimer Radschnellweg

Beate Fischer vom Geschichtsverein und Thomas Böhm, Streetworker, beim Graffiti-Rundgang in der Mülheimer Innenstadt. Die Führung begann an dem großen Bild an der Wand des ehemaligen Frauengefängnisses.
Beate Fischer vom Geschichtsverein und Thomas Böhm, Streetworker, beim Graffiti-Rundgang in der Mülheimer Innenstadt. Die Führung begann an dem großen Bild an der Wand des ehemaligen Frauengefängnisses. © FUNKE Foto Services | Oliver Müller

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Eine ähnliche Situation am Radschnellweg eskalierte beinahe. Die freundlich gehaltene Beschimpfung HAMPELMANN! in Signalgelb überdeckt zwar das irregulär angebrachte Tag, aber damit ist wohl in diesem Sprayer-Konflikt ein Schlusspunkt gesetzt. Böhm gelingt es, Verständnis für die Graffiti-Szene bei den 20 Interessierten zu wecken. „Jetzt weiß ich, was Graffiti bedeuten, wie viel Arbeit dahinter steckt“, sagt Heidelinde Lenz. „Die entstehen gar nicht spontan.“

Aber es gibt natürlich auch weltweit auftauchende Tags, zum Beispiel ACAB. Dazu liefert Thomas Böhm gleich mehrere eindrucksvolle Interpretationen: Neben dem altbekannten Schmähruf All Coppers Are Bastards (musikalisch belegt) auch eine menschenfreundliche Variante: All Colours Are Beautiful. Doch am besten kommt die ruhrpott-typische Pointe an: Acht Cola acht Bier!