Mülheim. Die bewegende Kindheits- und Jugenderinnerung von Hans von Frankenberg schildert eindringlich das Mülheim der 1930er und 1940er Jahre.

Hans von Frankenberg hat seine Autobiografie und damit auch ein spannendes Stück Mülheimer Zeitgeschichte der 1930er und 1940er Jahre veröffentlicht, das Corona-bedingt noch darauf wartet, bei einer Mülheimer Zeitzeugen Lesung den interessierten Nachgeborenen vorgestellt zu werden. Der heute 87-Jährige hat seine frühen und prägenden Jahre unter anderem in Mülheim erlebt und erlitten. Es waren die Jahre der NS-Diktatur, des Zweiten Weltkrieges und der von Not geprägten Nachkriegszeit.

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Hans von Frankenberg schildert, wie er mit anderen Kindern den Krieg spielte

So beschreibt der Autor das Schicksal seines Vaters Albrecht von Frankenberg, der als 37-jähriger Ingenieur 1938 die technische Leitung der kriegswichtigen Friedrich-Wilhelms-Hütte übernahm, aber schon zwei Jahre später unter ungeklärten Umständen bei einem Autounfall ums Leben kam, während seine Frau Käthe schwer verletzt wurde.

Es kam zum Prozess, der aber 1942 mit einem staatlich angeordneten Vergleich eingestellt wurde. Unter der Leitung seines Vaters wurden in der Friedrich-Wilhelms-Hütte unter anderem Granaten für Hitlers „Endsieg“ hergestellt, auch mithilfe von Zwangsarbeitern. Sein Sohn Hans erinnert sich, dass eine junge polnische Fremdarbeiterin (Frosya), die der vom Autounfall gezeichneten Mutter im Haushalt zur Hand ging und dass nach dem Tod des Vaters im Elternhaus in der Jahnstraße am Kahlenberg ein Wehrmachtsoffizier einquartiert wurde, dem zwischen 1945 und 1955 britische Besatzungssoldaten als Bewohner folgen sollten.

Weiter erzählt er davon, wie er mit anderen Kindern den Krieg „spielte“, von dem er und sie täglich aus dem gleichgeschalteten NS-Rundfunk im sogenannten Volksempfänger hörten.

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Wie der Mülheimer Junge die ersten Luftangriffe erlebte

Während seines ersten Schuljahres an der Trooststraße erlebte Hans die ersten Luftangriffe, deren zerstörerische Wirkung aber noch nicht mit der späterer Bomben-Nächte zu vergleichen war. Nach den Jahren der Kinderlandverschickung in Süddeutschland und Thüringen, in denen er einen gespenstischen Todesmarsch von KZ-Häftlingen beobachten und miterleben musste oder seine bei einem Luftangriff getöteten Mitschülerinnen und Mitschüler bergen und identifizieren musste, kehrte er mit seinem Bruder und seiner Mutter im November 1945 ins kriegszerstörte Mülheim zurück.

Der Blick von der Marienkirche auf die Petrikirche am 5.8.1947.
Der Blick von der Marienkirche auf die Petrikirche am 5.8.1947. © WAZ | WAZ-BILD,

Die kleine Familie erreichte das vom Krieg gezeichnete und seit Juni 1945 unter britischer Militärverwaltung stehende Mülheim im Dritte-Klasse-Abteil der Reichsbahn. Frankenberg schreibt: „Ich erinnere das entsetzte ungläubige schweigen der fast ausschließlich aus den östlichen Gebieten oder Mitteldeutschland heimkehrenden Menschen beim trost- und hoffnungslosen Anblick der Ruhrgebietsstädte, die mit ihren bizarren Ruinenlandschaften, in denen man nur selten Menschen sah, und die deshalb wie ausgestorben wirkten.

Durch diese fuhr der Zug langsam von Ost- nach West, bis er schließlich in Mülheim ankam, in dem, was von der Stadt übriggeblieben war. Tief bedrückt, ja deprimiert beim ersehnten Betreten heimatlichen Bodens hat mich an diesem Novembertag der trostlose Anblick des dem heutigen Bahnhof West direkt gegenüberliegenden total zerstörten Industriekomplex der Friedrich-Wilhelms Hütte, der ehemaligen der ehemaligen Wirkungsstätte unseres Vaters.“

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Mülheimer retteten sich mit Kohlenklau durch die entbehrungsreichen Winder ‘45 bis ‘47

Weiter berichtet Frankenberg über die langen, kalten und entbehrungsreichen Winter der Jahre 1945,1946 und 1947. Damals, habe man Brennmaterial nur mit besonderer Begründung, auf Bezugsschein. durch Beziehungen oder durch „Kohlenklau“ bekommen.

Der Autobiograf mit Mülheimer Vergangenheit nimmt uns Nachgeborenen mit in eine Zeit, in der nicht nur bei seiner in einem Haus an der Dohne ausquartierten Familie die Vorfreude auf die heiß ersehnten Carepakete zu den wenigen Lichtblicken eines ansonsten harten Alltags gehörten. Auch mehr als 75 Jahre später ist die kindliche Begeisterung noch spürbar, wenn er sein „Staunen über die für uns Kinder unbekannten Schätze“ beschreibt.

Care-Pakete waren nicht nur überlebensnotwendig, sondern auch psychologisch eine Hilfe.
Care-Pakete waren nicht nur überlebensnotwendig, sondern auch psychologisch eine Hilfe. © NRZ | ZINGLER, Friedhelm

Die Care-Pakete waren auch eine psychologische Hilfe

Er lobt die Care-Pakete auch als eine „psychologisch wichtige Hilfe“ in den Tagen der existenziellen Not. „Welche Glücksgefühle haben uns die Absender aus der Ferne damit bereitet“, schwärmt Frankenberg. Und er gedenkt aller Mülheimer Familien, die sich in den Jahren 1946 und 1947 von einem monatlichen Care-Paket zum nächsten durchhungerten.“

Denn Lebensmittel gab es in den ersten drei Nachkriegsjahren nur gegen die von den britischen Besatzungsbehörden zugestandenen Bezugskarten und Marken. Demnach hatten Erwachsene ein Anrecht auf 1000 Kalorien pro Tag. Den Bergleuten der Mülheimer Zechen wurden täglich 2400 Kalorien zugestanden. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, wenn Frankenberg die Care-Pakete als „ein Beispiel praktischer Hilfe und Nächstenliebe über die Grenzen und Vorbehalte gegenüber Deutschland und den Deutschen hinweg“ sieht.

Mit mitgebrachten Briketts und Holz wurden die Klassen-Öfen befeuert

1946 saßen in seiner Schule, bis zu 40 Jungs im Alter zwischen 10 und 14 Jahren in einer Klasse. Lehrer und Kinder waren gleichermaßen traumatisiert. Doch das Unrecht des NS-Regimes war damals kein Thema für den Unterricht. Mädchen und Jungen wurden damals noch getrennt voneinander unterrichtet. Damit sie in ihrer Klasse keine kalten Füße bekamen, mussten alle Schüler Briketts und Holz mitbringen, mit denen der Klassen-Ofen befeuert wurde.

Oft wurde dieses Brennmaterial von den Halbwüchsigen waghalsig von den Zugwaggons gestohlen, die das schwarze Gold von der Ruhr als Reparation in Richtung Westen transportieren sollten. „Dieses Schulmaterial war in jenem Winter wichtiger als ein Schulbuch“, erinnert sich der Nachkriegsschüler. Im Gegenzug bekamen von Frankenberg und seine Klassenkameraden während der Pausen auf dem Schulhof eine Quäker-Speise aus der Gulaschkanone.

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Reis- und Maisbrei gab es statt Pausenbrote

Diese Schulspeisung bestand aus heißem Reis- und Maisbrei und manchmal auch aus einem Maisbrot. Nach Schulschluss waren bei Hans und seinen Altersgenossen „vor allem die Erlebnisse der abenteuerlichen Streifzüge durch die geheimnisvolle und oft unheimliche Welt der Ruinenlandschaft“ des Nachkriegs-Mülheims „besonders beliebt.“

Der Schüler Hans von Frankenberg in den Jahren 1947 und 1952.
Der Schüler Hans von Frankenberg in den Jahren 1947 und 1952. © Hans von Frankenberg

Dabei wurden Hans und weitere Altersgenossen, kaum, dass sie das Trauma des Krieges überlebt hatten, erneut traumatisiert, diesmal in Form eines schweren sexuellen Missbrauchs durch einen britischen Offizier. Auch nachdem der sexuelle Missbrauch des Besatzungssoldaten ruchbar geworden- und der Soldat degradiert und versetzt worden war, kümmerte niemand um die zerstörten Seelen der missbrauchten Kinder. Ein Lehrer tat das Thema mit dem Satz ab: „Einem deutschen Jungen passiert so etwas eben nicht!“

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Sexueller Missbrauch? „Einem deutschen Junge passiert das nicht“ – sagte der Lehrer

Er und andere Erwachsene ließen Hans und seine Leidensgenossen mit ihrer Scham und ihrem Schmerz allein. Auch seiner Mutter konnte sich der damals 12-Jährige nicht offenbaren. Denn der englische Soldat, der ihn sexuell missbraucht, genötigt und bedroht hatte, versorgte die Familie mit Lebensmitteln.

Und er versprach, sich für die Rückgabe des Elternhauses an der Jahnstraße zu verwenden. Aus Dank dafür, wusch Hans‘ Mutter dem englischen Soldaten seine Unterwäsche, ohne jemals davon zu erfahren, was dieser Offizier ihrem Sohn angetan hatte. In seinen letzten Mülheimer Monaten verdiente sich der Abiturient, der unter anderem das heutige Otto-Pankok-Gymnasium besucht hatte, unter Tage auf den Zechen Wiesche und Rosenblumendelle das Geld für sein Medizinstudium, das er 1958 in Bonn beginnen sollte.