Mülheim. Ingrid Kocks erinnert sich an den 11. April 1945, als die Amerikaner Mülheim befreiten. Trotzdem plünderten hungernde Zwangsarbeiter die Höfe.

„Der Bombenkrieg war schlimm, hatte bei uns aber nicht so viele Wunden gerissen wie die Zeit danach“, sagt Ingrid Kocks. „Die Amerikaner waren gut zu uns und boten Schutz. Aber sie konnten nicht alles verhindern.“ Die 92-Jährige lebt seit mehr als 80 Jahren auf ihrem Hof zwischen Rumbachtal und Raadter Höhe. Sie kann fast ohne Unterbrechung aus ihrer Jugendzeit erzählen. „Ich bin froh, dass mir noch jemand zuhört und ich das alles weitergeben kann. Die Jüngeren mussten das zum Glück nicht miterleben.“

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„Mein Vater Otto Schröter hatte den Hof 1936 gekauft und machte daraus eine Obstplantage“, erinnert sich Ingrid Kocks. Hunderte Bäume wurden in langen Reihen auf die Wiesen gepflanzt. Sie trugen bald Äpfel, Birnen und einige auch Pfirsiche. „Wir hatten hier eine unbeschwerte Jugend.“

Flugzeuge kreisten im Krieg immer über dem Hof

„Flugzeuge kreisten während des Krieges immer über unseren Hof. Der Flughafen war nah und sie hatten an der Zeppelinstraße ein paar Geschütze aufgebaut“, schildert die 92-Jährige. Die Bomben fielen an anderen Stellen. „Das Obst haben wir an die Nachbarn und an andere Leute ausgeliefert. Es war ein Hobby meines Vaters. Er war Versicherungsvertreter in Duisburg. Ein Verwalter regelte den Hof.“

Der alte Bunker gehört heute noch zum Hof. Er dient als gut klimatisierter Lagerraum. Ingrid Kocks hat dort mit ihrer Familie die Stunden des Fliegeralarms abgewartet.
Der alte Bunker gehört heute noch zum Hof. Er dient als gut klimatisierter Lagerraum. Ingrid Kocks hat dort mit ihrer Familie die Stunden des Fliegeralarms abgewartet. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Im April 1945 beobachteten die Bewohner immer mehr Aufklärungsflugzeuge am Himmel. „Wir hatten von den Nachbarn gehört, dass die Amerikaner unterwegs seien, um uns zu befreien. Das sprach sich schnell herum“, sagt die Seniorin. „Wegen der Luftangriffe lebte inzwischen die ganze Familie in Holthausen auf dem Land. Wir hatten einen eigenen Bunker mit Notausgang am Berg.“

Drei Panzer fuhren in der Mitte der Kolonne

Fast täglich war Ingrid Kocks mit ihrer Schwester auf dem Anwesen unterwegs. „Damals war der Blick frei in und über das Rumbachtal. Heute versperren Bäume die Weitsicht. „Wir wussten, die Amerikaner kommen von Essen. Plötzlich fuhren Militärfahrzeuge über die B1. In der Mitte waren sogar drei Panzer.“

Die Kolonne bog ab ins Rumbachtal und fuhr bis auf die Wiese des Hofes Oberhansberg. Der ehemalige Hof Tinkrath liegt am Ende des Rumbachtals. „Unterhalb unseres Gartens steht heute das Haus mit der Hausnummer Rumbachtal 89“, hat Klaus Oberhansberg in einem Nachtrag zu seinen Erinnerungen ergänzt.

Zielrohre auf den Hof gerichtet

Die beiden Mädchen und weitere Hofbewohner beobachteten, wie die drei Panzer auf der gegenüberliegenden Talseite in Stellung fuhren. Sie drehten sich und richteten ihre Zielrohre auf die Gebäude zwischen den Obstbäumen. „Aber sie schossen nicht auf uns.“

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Dann kamen sechs oder acht Soldaten den Berg herunter bis an unseren Zaun. Sie gingen wieder weg. Mein Vater hatte immer befohlen, dass alle Tore verschlossen sind. Nun schickte er mich, um das Tor aufzuschließen. Er hatte Angst, die Amerikaner würde es mit Granaten sprengen. Also lief ich mit dem Schlüssel hinunter und schloss es auf“, berichtet Ingrid Kocks.

Mädchen haben aus ihrem Versteck alles beobachtet

Ihrer Schwester und ihr war es mulmig. „Bald kamen die Amerikaner wieder und inspizierten unseren Hof. Sie liefen hinauf zum Schwimmbecken, das wir mit dem Wasser aus unseren Hofquellen gefüllt hatten, weil er als Löschteich dient.“ Die beiden Mädchen hatten sich längst hinter einer Mauer versteckt.

„Die Soldaten erreichten den Beckenrand. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sie ihre Uniformen auszogen und splitternackt in das kalte Wasser sprangen. Es war erst April. Aber sie hatten sich bestimmt viele Tage nicht gewachsen.“ Mehr passierte wieder nicht. Die Mädchen haben aus ihrem Versteck alles beobachtet.

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Alle Räume nach Waffen durchsucht

Später kamen die GIs zu den Wohngebäuden. „Sie fragten nach Waffen und durchsuchten das ganze Haus. Sie öffneten sämtliche Schranktüren und Schubladen. Weinflaschen, die sie im Keller fanden – davon tranken sie gleich einige aus. Aber die Männer waren freundlich zu uns.“ Was Ingrid Kocks heute noch ärgert: „Sie haben uns allen die Armbanduhren abgenommen. Nur meine Schwester durfte ihre behalten, weil es ein Geschenk ihres Freundes war. Ob sie auch den Schmuck mitgenommen haben, weiß ich nicht mehr.“

Den 19-jährigen Araber Garif streichelt Ingrid Kocks. Eine langjährige Freundschaft verbindet die beiden.
Den 19-jährigen Araber Garif streichelt Ingrid Kocks. Eine langjährige Freundschaft verbindet die beiden. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Die Amerikaner richteten sich auf dem Hof ein und schützten ihn. „Das war auch nötig. Aus dem Lager am Flughafen hatten sie die ausländischen Zwangsarbeiter befreit. Die hatten nichts, überfielen nachts die Höfe der Umgebung.“ Dabei gab es mehrere Tote und Verletzte. Die Bewohner wehrten sich gegen diese Plünderungen. einige erschossen die Zwangsarbeiter. Ihr späterer Mann überlebte mit einem Schulterdurchschuss nur knapp.

Die Liebe zu den Pferden ist bis heute geblieben

„Wir haben nachts Wachen eingeteilt und uns gegenseitig informiert. Das Telefon klappte noch. Aber wir hatten Angst. Diese Leute hatten Pistolen. Sie nahmen Hühner mit, schlachteten Ziegen und Kühe auf den Wiesen. Das war schlimmer für uns als die Jahre im Krieg“, sagt Ingrid Kocks.

Erst nach den langen Eiswintern und der Währungsreform habe sich die Lage für die Bauern wieder gebessert. Die junge Frau hatte inzwischen ihre Liebe zu den Pferden entdeckt, anstatt den Wunsch ihrer Mutter zu erfüllen, das Klavierspielen zu erlernen. „Ich habe viel erlebt auf dem Rücken der Pferde.“ Bis heute lebt sie mit ihnen und ihrer Familie auf dem Hof über dem Rumbachtal.