Duisburg. Mitte April 1945 haben die Alliierten das Ruhrgebiet erobert. Die Bewohner sind erleichtert. Aber der Weg zurück in die Normalität ist lang.
Am Tag, als der Frieden kommt, ist Christel Hornschu nicht da. Wie Tausende anderer Kinder aus dem Ruhrgebiet ist sie – zusammen mit Mutter und kleiner Schwester – auf’s Land geschickt worden. Wo nicht Tag und Nacht Feuer vom Himmel regnet und es ein Leben außerhalb der Bunker gibt. Wallerstein heißt das Dörfchen im Schwabenland, in das die damals Sechsjährige kommt.
„Saupreußen“ nennen die Einheimischen die Menschen aus dem Ruhrgebiet, „aber ansonsten hat man uns sehr freundlich aufgenommen“, erinnert sich die Duisburgerin. „Und vom Krieg haben wir dort lange Zeit tatsächlich nichts mitbekommen.“ Von den Folgen der jahrelangen Kämpfe aber bekommt die Familie dann sehr viel mit. Denn nach der Kapitulation geht es zurück ins Revier. „Mit einem offenen Kohlenzug sind wir gefahren“, erzählt Hornschu. Bettlaken dienen während der Fahrt als Toilettenwände und „wir alle sind völlig verlaust angekommen“.
Die großen Städte an Rhein und Ruhr liegen in Trümmern
Die großen Städte an Rhein und Ruhr liegen in Trümmern. Aber die Schuttberge haben sich nicht so sehr in Hornschus Gedächtnis gebrannt. „Ich glaube, die Erwachsenen hat das damals weitaus mehr schockiert, als die Kinder“, sagt Christels Mann Otto. „Wir wussten ja gar nicht so genau, wie die Städte vor dem Krieg aussahen.“
Hunderttausende Männer sind gefallen, vermisst oder in Gefangenschaft. Auch der Vater der kleinen Christel wird seit Stalingrad „offiziell vermisst“. „Aber uns war schon lange klar, dass er nicht wieder kommt.“ Die Mädchen und ihre Mutter finden bei den Großeltern Unterschlupf. Eher Ruine als Haus ist das neue Heim, aber schon das ist mehr als viele andere haben im Sommer 1945. Mehr als zweieinhalb Millionen Wohnungen sind im Bombenkrieg zerstört worden, weitere vier Millionen beschädigt. Der Hauptausschuss des Deutschen Städtetages nennt Deutschland damals ein „überfülltes Elendsviertel Europas“.
Fehlende Nahrung wird zum größten Problem
Wohnungsnot ist aber bald nicht mehr das einzige Problem, es ist nicht mal das Schlimmste. Nahrung ist die größte Sorge der Menschen. Der Hunger, schreibt eine Zeitung, wird für viele zum „schlimmsten Diktator“. „Es ging uns allen dreckig“, bestätigt Hornschu. Zumindest in den Städten. Auf dem Land ist die Versorgungssituation weitaus besser und mancher Bauer kommt durch Tauschgeschäfte – Silberbesteck gegen Fleisch - sogar zu bescheidenem Wohlstand. Und wer den richtigen Job hat, an einer Quelle sitzt, der muss auch in der Stadt nicht darben, wie der Bochumer Bodo Ringenberger (86) nur zu gut weiß. „Mein Vater leitete eine Kohlenhandlung, wir hatten immer etwas zu tauschen. Uns ging es nicht schlecht. Kohle war wie Gold.“
Nur Zigaretten, die die Reichsmark bald als inoffizielles Zahlungsmittel ablösen sollten, waren noch begehrter. „Die Tugend sei dein fester Schild, lockt dich auch sehr die Chesterfield“, warnt der Volksmund. Meistens warnt er vergeblich obwohl sich der Preis für eine „Ami-Zigarette“ bei 7 Reichsmark einpendelt – und das bei einem durchschnittlichen Monatslohn von rund 42 Euro brutto.
Die Menschen hamstern auf dem Land
Es schlägt die Stunde der Frauen. Sie hamstern auf dem Lande und verursachen dabei im Behördendeutsch „Erzeuger-Verbraucher-Verkehr“. Sie ziehen mit Axt und Säge in die Wälder, um Holz zu holen, sammeln Pilze oder kochen Suppe aus Kartoffelschalen. Und sie sorgen dafür, dass ihre Kinder etwas zum Anziehen haben. „Aus drei alten Kleidern hat meine Mutter ein Neues gemacht“, sagt Christel Hornschu. Schuhe bereiten da schon mehr Probleme. Sind sie ausnahmsweise mal zu bekommen, werden sie für die Kinder ein paar Nummern zu groß gekauft, damit die Füße reinwachsen können. „Und wenn sie dann trotzdem irgendwann zu klein geworden sind, haben wir hinten und vorne Löcher reingemacht, um sie weiter tragen zu können.“
So können manche Kinder helfen, bei der Versorgung der Familie. Können Kohlen klauen oder Kartoffeln oder mit traurigem Blick beim Bauern um „eine milde Gabe“ bitten. „Manche haben den Hund auf uns gehetzt“, erinnert sich Hornschu, „andere haben wenigstens ein Stück Brot gegeben. Steinhart war das aber trotzdem köstlich.“ Sommer und Herbst 1945 sind hart und der Winter ein Jahr später wird noch härter. Nur langsam geht es aufwärts „Erst nach der Währungsreform 1948 hat sich die Lage langsam gebessert“, sagt Otto Hornschu.
Der Ruhrbergbau erholt sich schnell
Der Ruhrbergbau, der im letzten Kriegsjahr nur noch 33,3 Millionen Tonnen gefördert hat, erholt sich schneller. Kokereien, Brikettfabriken und Förderanlagen sind zwar im ganzen Ruhrgebiet schwer beschädigt, unter Tage aber halten sich die Zerstörungen in Grenzen. Consolidation 3/4/9 in Gelsenkirchen etwa kann schon kurz nach Kriegsende den Betrieb wieder aufnehmen, andere Schachtanlagen folgen kurz darauf.
Und nur drei Jahre später ist die Zahl der „Kumpel“ von rund 276.000 auf mehr als 400.000 gestiegen, die 81 Millionen Tonnen Kohle abbauen. Es ist, wie Herbert Grönemeyer fast vierzig Jahre später singen wird, das Grubengold, das die Region wieder nach oben holt. Und es sind die Allierten, die anders als beim Stahl, von jeglichen Beschränkungen absehen, weil sie erkannt haben, dass dem Bergbau beim westlichen Wiederaufbau und dem Kampf gegen den Kommunismus eine Schlüsselstellung zukommt.
Ein Ei für sieben Scheiben Brot
Wer damals Kind ist, bekommt von Politik und Wirtschaft nicht viel mit. Für viele Jungs sind die ersten Nachkriegsjahre, ist das Spielen in den Trümmern „auf gewisse Weise auch ein Abenteuer“, sagt Bodo Ringenberger. Wenn auch ein gefährliches. Es ist eine Zeit, die sich in die Gedächtnisse eingebrannt hat. „Ich habe bis heute nichts vergessen“, sagt der Bochumer. Und auch Hornschu kann sich selbst an Kleinigkeiten erinnern. Etwa an eine Packung Eier, die sie bekommen hat. „Was war das eine Glücksseligkeit. Mit einem Ei haben wir sieben Scheiben Brot belegt, so dünn haben wir es geschnitten.“
Man habe gelernt, sagt die Frau aus Duisburg, dass man auch mit wenig auskommen könne. Das hilft ihr bis heute. „Uns kann“, sagt Christel Honrschu und blickt auf ihren Mann, „so schnell nichts mehr erschüttern.“