Mülheim. In der Pandemie ist auch Gutes entstanden: Mülheims Buchhändler haben sich neue Vertriebswege erschlossen und vieles gelernt, was bleiben wird.
Brigitta Lange hofft, dass die Menschen schon bald so auf die Coronazeit zurückblicken wie auf eine Episode ihrer Schulzeit: „Weißt du noch, damals. . .?!“ Die Buchhändlerin aus Saarn wäre heilfroh, wenn das Kapitel Pandemie endlich abgeschlossen wäre, die Delta-Mutante nicht noch Oberhand gewinnt. Die Sehnsucht nach Normalität ist groß – dabei waren die vergangenen 16 Monate alles andere als schlecht. „Wir haben gearbeitet wie die Grubenpferde, hatten aber auch viel Vergnügen.“ Die 63-Jährige, ihre Mitstreiterin Ursula Hilberath sowie das Team haben in der Krise einiges gelernt, sich dem unliebsamen Thema Internet gestellt. Erfahrungen, die den Alltag auch nach Corona bestimmen werden.
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Es war „das Jahr des grünen Körbchens“, sagt Lange lachend. Im ersten Lockdown entwickelte sich eine Routine, die zum Geschäftsmodell wurde: Am frühen Morgen sortierten die Kollegen die bestellten Bücher in besagte Plastikkörbchen, lieferten sie dann in alle Stadtteile aus. Immer sei dabei Zeit für ein nettes Gespräch gewesen, für ein „Wie isset?“ an der Haustür, so Lange.
Weil viel zu tun war, saßen oft auch Freunde und Bekannte hinterm Steuer der Autos voll Literatur. Bis zu 200 Bücher habe man am Tag durch Mülheim kutschiert. Gut fürs Geschäft: „Im harten Lockdown haben wir deutlich mehr verkauft als sonst.“
Lange, einsame Monate auf dem Sofa brachten viele zurück zum gedruckten Wort
Die Nachfrage ebbte zwar bald ab, doch für eine erfreuliche Bilanz reichte es: „Wir haben die Zeit gut überstanden, sind aus dem Jahr rausgekommen wie aus früheren Jahren“, sagt die Chefin. Das sei wohl auch so, weil Bücherverkaufen eine dankbare Aufgabe war. Lange, einsame Monate auf dem Sofa brachten viele zurück zum gedruckten Wort, „und unsere Ware war leicht an den Mann zu bringen“. Über Bücher nämlich konnte sich jeder vorab gut im Netz informieren. „Bei Parfüm ist das anders – da weiß man nach der Beschreibung noch längst nicht, wie es riecht.“
Lange und Hilberath mussten niemanden in Kurzarbeit schicken, konnten auf staatliche Unterstützung weitgehend verzichten. Einzig aus dem NRW-Förderprogramm „Digitalen und stationären Einzelhandel zusammendenken“ flossen im Frühsommer 2020 „mehrere Tausend Euro“ nach Saarn. „Wir hatten festgestellt, dass wir plötzlich alles digital machen mussten und uns einfachste Dinge fehlten.“ Mit dem Geld vom Land konnten ein neuer Rechner, eine Kamera und Boxen angeschafft und die Website auf Vordermann gebracht werden.
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Die Buchhändlerinnen waren plötzlich mittendrin in der virtuellen Welt
Mit einem Mal geschah das, was sich vorher kaum einer vorstellen wollte: Die Buchhändlerinnen waren mittendrin in der virtuellen Welt und erforschten mit zunehmender Freude die digitalen Medien. „Das hatte etwas Rauschhaftes“, erinnert sich Lange. Humor war ein Schlüssel zum Erfolg: Das erste Video, das entstand, war „eine Persiflage auf die erste Corona-Ansprache der Bundeskanzlerin“.
Das Duo wendete sich ebenfalls ans Volk, veröffentlichte eine „Ansprache der Buchhändlerinnen“. Man habe den Kunden zeigen wollen, dass es im Lockdown weitergeht wie sonst auch, dass man weiterhin Bücherfans beglücken kann.
Es folgten weitere Videos, das Literarische Saarner Quintett hielt Einzug ins Netz und die Kunden konnten via Facebook und Instagram auf Schaufensterbummel gehen. Das Team dekorierte jede Woche um und stellte Fotos der aktuellen Fenster-Empfehlungen ins Netz. Newsletter entstanden, und wurden rasch zur Gewohnheit: „Je öfter man es macht, umso leichter geht’s von der Hand“, weiß die 63-Jährige mittlerweile. Man habe viel über das Verhalten der Internetnutzer gelernt und verstanden, dass man sich darauf einfach einlassen muss. Das Netz verlor den Schrecken, „es war nicht mehr so ein Angang wie früher“.
Corona eröffnete eine völlig neue Vertriebsschiene
Mit der Zeit wurde klar: „Corona hat uns eine neue Vertriebsschiene eröffnet.“ Die Kunden hätten erfreulicherweise festgestellt, dass die kleinen Buchläden mit großen Anbietern im Onlinegeschäft konkurrenzfähig sind, so Lange. Das machte zuversichtlich – und wird bleiben. Auch das Ausliefern der Bücher wird weiter zum Service gehören, verspricht Lange. Aktuell fährt man zwei Touren pro Woche. Lange glaubt, dass deutschlandweit nahezu alle kleinen Buchhandlungen Nutzen aus Corona gezogen haben: „Die würden fast alle sagen, das Jahr war in Ordnung.“
Langes Kollegin aus Broich, Petra Büse-Leringer von der Buchhandlung „Bücherträume“, hatte jüngst im Gespräch mit dieser Zeitung ebenfalls betont: „Uns ist es gelungen, den Kontakt zu den Kunden zu halten, unser Umsatz ist nicht weniger geworden.“ Zum Glück habe man knapp vor der Pandemie einen Veranstaltungsraum nebenan eingeweiht. Diesen habe man seither zwar nur als Ausstellungsfläche nutzen können, „aber er hat unsere Verkaufsfläche so vergrößert, dass mehr Kunden zugelassen waren“.
„Mit drei blauen Augen davongekommen“
Michael Fehst, Inhaber der Buchhandlung am Löhberg Nr. 4, mag ebenfalls „nicht klagen“, spricht aber davon, nur „mit drei blauen Augen davongekommen“ zu sein. Zum Glück hätten ihm viele Kunden die Treue gehalten; „einige vermisse ich aber immer noch“. Fehst hat sich vorgenommen, sein digitales Angebot weiter auszubauen. Er werde nicht vergessen, so der Buchhändler, wie es ist, „wenn man von heute auf morgen gezwungen ist, sein Geschäftsmodell von Grund auf zu überdenken“. Das sei durchaus eine wichtige Erfahrung gewesen.