Mülheim. Corona schreibt im Mülheimer Einzelhandel viele Geschichten, auch die von Solidarität zwischen Händlern und Vermietern. Nicht immer klappt’s.
Wenn Julian Schick morgens sein „Good Life“ am Kohlenkamp aufschließt, weiß er noch nicht, wie er das Geschäft acht Stunden später verlassen wird: „Oft gehe ich beschwingt mit guter Laune nach Hause“. An anderen Tagen aber mit nur drei geschriebenen Bons – „das ist weniger Stundenlohn als ich mit 16 im Aushilfsjob verdient habe“, meint der 40-Jährige. Ein Entgegenkommen der Vermieter würde nicht nur diesem Mülheimer Einzelhändler helfen. Nur: Mieterlasse oder Stundungen sind oft ein Einzelfall.
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Im Dorf Saarn zeigen sich etliche Vermieter solidarisch
Dennoch gibt es diese Geschichten, die von Solidarität, gar von Verbundenheit mit Mietern und vielleicht auch mit dem Stadtteil erzählen. Und die nicht nur den gestandene Geschäftsleute berühren wie Christian Rulf, Inhaber von CPS-Reisen in Saarn: „Meine Vermieterin kam eines Tages während der Pandemie ins Geschäft und bot mir an, nur das zahlen zu müssen, was möglich ist. Das hätte auch nur ein Euro sein können. Ganz ehrlich: Da habe ich erst einmal nach nebenan gehen müssen, weil mir die Tränen gekommen sind.“
Diese Not-Hilfe kam auf den Punkt: Nach 27 Jahren in Saarn, nach zehn Jahren an dieser Stelle musste Rulf schon zu Beginn der Corona-Pandemie einen noch nie dagewesenen Umsatzeinbruch von 90 Prozent erleben, die Provisionen flogen davon, „gleichzeitig mussten unsere Mitarbeiter in voller Besetzung Überstunden machen, damit wir die Reisen unserer Kunden zurück abwickeln konnten.“
Werbegemeinschaft: „Man steht zusammen“
Seitdem zahlt Rulf an Miete, was er derzeit real aufbringen kann. Als zusätzliche Gegenleistung aber modernisierte CPS-Reisen das Saarner Ladenlokal auf eigene Kosten. „Nur den Briefkasten musste jemand anderes anbringen – der wäre sonst wohl schief geworden“, scherzt der Inhaber. Für ihn ist das Entgegenkommen des Vermieters „ein Akt der Menschlichkeit, aber auch der Intelligenz.“ Ein Einzelhändler wolle ja zahlen, versichert Rulf, wenn man sich daher einige, erspare sich auch der Vermieter den Ärger von Mahnungen, einer eventuellen Klage, womöglich Räumung und der neuen Suche nach einem Nachmieter.
Margit Schettler kennt mehrere ähnliche positive Fälle in Saarn, die offenbar etwas mit gewachsenen Strukturen zu tun haben: „Manche Vermieter kennen ihre Mieter irre lang. Da steht man zusammen.“ Im Dorf offenbar mehr als anderswo: Allein sechs Fälle kann die Geschäftsführerin der Werbegemeinschaft Saarn aus dem Stegreif benennen. Andere würden wiederum kein Entgegenkommen benötigen, weil sie das Haus, in dem ihr Geschäft ist, selbst besitzen.
Innenstadt-Managerin: Man darf das Thema nicht schwarz-weiß malen
Eine rühmliche Ausnahme bleiben solche Fälle zumindest in der Innenstadt – wie Gesa Delija, City-Managerin in der Mülheimer Innenstadt, bestätigen kann. Was die City vom Dorf unterscheidet? Neben den Handelsketten vielleicht die vergleichsweise geringere Zahl der privaten und lokal verbundenen Eigentümer. „Das Thema ist aber auch nicht einfach schwarz-weiß“, wehrt sich Delija gegen eine Unterteilung in gute und schlechte Vermieter, „es ist nicht unbedingt mangelndes Verständnis für die Lage der Einzelhändler. Manche von ihnen beziehen ja genau dafür auch Corona-Hilfen.“
Oder haben eben nicht solche Einbußen wie andere. Augenoptikermeister Alexander Riehl verzeichnet 20 Prozent Umsatzeinbußen in seinem Mülheimer Geschäft an der Schloßstraße. Noch kann er sie schultern. „Wir müssen natürlich sparen, aber der Verlust bringt uns nicht an den Rand der Existenz.“ Dennoch fragte der Geschäftsmann bei seiner Vermietung an – ohne Erfolg. In Dinslaken hingegen kam man dem Betrieb entgegen.
Auch im Blumengeschäft von Heike Simons an der Wallstraße hätte man einen Nachlass gut gebrauchen können: „Uns fehlt durch den Ausfall von Hochzeits-, Trauer- und anderen Familienfeiern gut 20 Prozent des Umsatzes. Wir halten uns aber mit dem Alltagsverkauf über Wasser“. Dass im Zuge der verschärften Maßnahmen mehr und mehr die Laufkundschaft abhanden kommt, merkt man auch hier. Dennoch sattelte ihre Vermietung seit Jahresbeginn sogar etwas drauf.
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Mieterschutzbund: Stundung ist gut, Erlass wäre besser
Während die Ketten in der Innenstadt ihre Verluste noch ausgleichen können, ächzen nicht wenige Inhaber-geführte Läden unter den Corona-Auflagen und den unberechenbar schwankenden Einnahmen. Inhaber Julian Schick kann ein Lied davon singen: Dezember bis Februar waren für das „Good Life“ zwar gute Monate, in denen auch mal 600-Euro-teure Bollerwagen über die Theke gingen. Doch März und April nagen am Portemonnaie, die Frequenz sei aufgrund von Verzehr- und Verweilverboten auch am Kohlenkamp aktuell niedrig, sagt Schick.
Paragraf 313 bildet die Grundlage etwa für Stundung
Der Paragraf 313 im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) beschreibt die Gründe, warum Mieten etwa gestundet oder ausgesetzt werden können: „Haben sich Umstände, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert und hätten die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen, wenn sie diese Veränderung vorausgesehen hätten, so kann Anpassung des Vertrags verlangt werden, soweit einem Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann.“
„Einer Veränderung der Umstände steht es gleich, wenn wesentliche Vorstellungen, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, sich als falsch herausstellen.“
„Ist eine Anpassung des Vertrags nicht möglich oder einem Teil nicht zumutbar, so kann der benachteiligte Teil vom Vertrag zurücktreten. An die Stelle des Rücktrittsrechts tritt für Dauerschuldverhältnisse das Recht zur Kündigung.“
„Es wäre deshalb toll, wenn die Mieten nicht nur gestundet, sondern erlassen würden“, kommentiert Harald Bartnik, Geschäftsführer vom Mieterschutzbund. Doch kennt er nur einen einzigen Fall in der Mülheimer Innenstadt, in dem ein Vermieter einsichtig war. Dort muss etwa ein neues Restaurant solange keine Miete zahlen, wie es unter Corona nicht öffnen kann.
Haus und Grund: Auch Vermieter leben von Einnahmen
Doch trifft die Lage manchmal auch die Eigentümer: Schon in der zweiten Welle mussten manche erleben, dass Einzelhändler einfach nicht zahlten, sagt Andreas Noje. Auch Eigentümer müssen in Corona-Zeiten von den Einnahmen ihrer Immobilien leben. Der Geschäftsführer bei Haus und Grund in Mülheim sieht es deshalb grundsätzlich positiv, wenn Mieter und Vermieter sich einigen können, erinnert aber daran: „Voraussetzung ist der Paragraf 313 BGB, also die ,Störung der Geschäftsgrundlage’. Deshalb einfach die Miete zu kürzen, geht aber nicht. Im Klagefall müssen Mieter nachweisen, dass ihre Existenz aufgrund der Pandemie gefährdet ist.“
Beispiele für solche Einigungen – in den meisten Fällen Stundungen der Kaltmiete für eine begrenzte Zeit – gäbe es auch in Mülheim, ist Noje bekannt. Wie oft jedoch, kann auch der Geschäftsführer nicht sagen. Die Einigungen haben aus seiner Sicht aber gute Gründe: „Denn für den Vermieter ist es auch ein Vorteil, wenn er den Mieter halten kann und das Geschäft in der Innenstadt erhalten bleibt. Es ist schwer geworden, gute Mieter zu finden.“