Duisburg. Jian Liu starb bei der Loveparade in Duisburg. Seither ist für ihren Mann nichts mehr, wie es war. Ein Gespräch über Trauer und Erinnerung.

Jian Liu ist eins der 21 Todesopfer der Loveparade-Katastrophe in Duisburg. Die Chinesin wurde 38 Jahre alt. Seither kämpft auch ihr Mann Hanhui Huang um sein Leben.

Seine Frau sei ein fröhlicher Mensch gewesen, erzählt der 50-Jährige mit Hilfe eines Dolmetschers. „Sie liebte das Leben, die Familie, ihr Vaterland. Sie hatte immer gute Laune, war liebevoll zu den Menschen und handelte immer sehr vernünftig.“ Seit 2008 arbeitete sie bei einem großen Konzern in Düsseldorf, alle halbe Jahre konnte sich die Familie treffen. Den Namen des Unternehmens möchte er lieber nicht nennen.

Hinterbliebener sagt zehn Jahre nach Loveparade: „Ich hoffe, dass irgendwo mal ein Licht aufgeht“

Ein Foto von Jian Liu hängt an der Gedenkstätte am Brückenaufgang Karl-Lehr-Straße in Duisburg. Sie kam am 24. Juli 2010 bei der Loveparade-Katastrophe ums Leben.
Ein Foto von Jian Liu hängt an der Gedenkstätte am Brückenaufgang Karl-Lehr-Straße in Duisburg. Sie kam am 24. Juli 2010 bei der Loveparade-Katastrophe ums Leben. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Zehn Jahre nach dem Tod seiner Frau fühlt Huang sich immer noch „taub, ich hoffe, dass irgendwo mal ein Licht aufgeht“. Unterstützung habe er in seinem Land nur wenig bekommen, dabei ist er seit der Loveparade-Katastrophe arbeitsunfähig. Er war selbstständig, handelte mit elektronischen Geräten – und kümmerte sich um den Sohn, während seine Frau im Rheinland arbeitete.

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Deutschland, das er zuvor nur aus Büchern kannte, war für ihn ein reiches Land, landschaftlich schön, eine Kombination aus Hightech und frischer Luft. Gelesen hatte er auch von der Effizienz und Akribie, die typisch sei. Phänomene, die ihm später im Prozess begegneten. In Shenzhen, wo er lebt und arbeitet, gehe alles viel schneller, sagt Huang.

Die Erinnerungen tun immer wieder weh

Er spricht leise, überlegt, ohne große Geste, wirkt dabei immer ein bisschen zusammengesunken. In Gedanken reist er zurück: 1996 lernten sich die beiden kennen, heirateten 1999, ihr Sohn Zhenyu ist inzwischen 19 Jahre alt. Er studiert in Nordchina Psychologie, erzählt der Vater mit einem leisen Anflug von Stolz.

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Von Felix Laurenz, Peter Sieben

Nach dem Tod seiner Mutter habe der Junge sehr gelitten, sagt Huang. Er selbst habe sogar Selbstmordgedanken gehabt, sich psychologisch beraten lassen. Der 50-Jährige beschreibt seinen Sohn als offenes, fröhliches Kind, nach dem Tod seiner Mutter aber „war er jahrelang traurig“. Huang bricht in Tränen aus. Die Erinnerungen tun immer wieder weh.

Am Telefon über den Tod seiner Frau informiert

Vom Tod seiner Frau erfuhr Huang am Tag nach der Katastrophe per Telefon. „Ich hatte gerade meinen Sohn zur Nachhilfe gebracht, als es schellte.“ Ein Mitarbeiter der Firma, bei der seine Frau beschäftigt war, wollte ihn persönlich sprechen. Von der Katastrophe in Deutschland hatte er in den Nachrichten gehört, aber von Opfern aus China war nicht die Rede. Die Nachricht, dass seine Frau nicht mehr lebt, traf ihn wie wortwörtlich wie ein Schlag: „Ich wurde ohnmächtig.“ Sein Sohn habe die Endgültigkeit erst bei der Beerdigung erfasst.

Das Konsulat übernahm die Überführung, die Versicherung zahlte die Beerdigung. Nach Deutschland kam Huang erst zum ersten Gedenktag.

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Heute sagt er: „Die Katastrophe hat mein ganzes Leben ruiniert“. Dabei hatte er die Trauerbewältigung strategisch angepackt, sich mit Psychologie beschäftigt, mit Krisenbewältigung. „Ich dachte, ich brauche drei Jahre, dann sind alle Wunden geheilt.“ Die Familie habe ihn kaum unterstützt, die Schwiegerfamilie habe sogar ein Viertel des Vermögens seiner Frau als Erbe beansprucht. „Dafür musste ich unsere Wohnung verkaufen“, schildert Huang. In seiner Heimat China ist die Loveparade schon seit Jahren kaum noch ein Thema.

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„An der Gedenkstätte geht die Phantasie mit mir durch“

Huang war jetzt zum fünften Mal in Deutschland. Die Flüge zahlt er selbst, den Dolmetscher finanziert die Prozesskostenhilfe. Zu Gedenkfeiern hat die Stiftung 24.07.2010 die Anreisen gezahlt. Wegen der Corona-Pandemie ist ihm eine Anreise in diesem Jahr nicht möglich. Die Sprachbarriere erschwert den Kontakt zu anderen Hinterbliebenen. Zur Gedenkstätte zog es ihn ohnehin nur selten, „da geht die Phantasie mit mir durch, das ist zu unheimlich, zu traurig“.

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In die Justiz hatte der Chinese großes Vertrauen gesetzt, auf ein faires Urteil gehofft. Vor allem glaubt er, dass die Katastrophe eine Ursache hatte und man nach dem Prozess die Kette der Ereignisse besser nachvollziehen könne. Dafür saß er tagelang in dem Sitzungssaal in der Messe Düsseldorf - mit der grauen Auslegeware, den grauen Wänden und nackten Birnen in der grauen Decke. Ließ sich von seinem Dolmetscher leise flüsternd die minuziöse Kleinarbeit übersetzen, Schulter an Schulter, die Köpfe einander zugewandt. Vor und hinter ihm weitere der 42 Nebenkläger und 29 Vertreter.

„Der Vorsitzender Richter Plein hat gute und umfangreiche Arbeit geleistet. Dennoch bin ich über das Ergebnis enttäuscht. Mit der Einstellung des Prozesses stirbt nun auch die Gerechtigkeit. Falls die einundzwanzig Seelen dies hörten, würden sie sich sicherlich im Grab umdrehen“, sagt Huang,

Lobende Worte findet er indes für Oberbürgermeister Sören Link, für die ehemalige Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, für die Notfallseelsorger, die Stiftung 24.07.2010 und deren Vorsitzenden Jürgen Widera: „Sie haben viel getan!“ Nur seine Frau wird davon auch nicht wieder lebendig.