Düsseldorf/Duisburg. Der Loveparade-Prozess wird eingestellt und endet damit ohne Urteile. Das Landgericht Duisburg benennt dennoch viele Fehler bei den Planern.

Genau zwei Monate lang musste der Prozess um die Loveparade von Duisburg wegen der Corona-Krise Pause machen. Der heutige 184. Verhandlungstag ist der erste nach dem 4. März – und der letzte. Die 6. Große Strafkammer stellt den Prozess nach fast zweieinhalb Jahren erwartungsgemäß ein, Montagvormittag verkündete das Gericht den entsprechenden Beschluss. Fast ein Jahrzehnt nach dem tödlichen Technofest mit 21 Toten und mehr als 650 Verletzten können auch die letzten drei Angeklagten am Ende dieses Tages ohne Urteil nach Hause gehen.

Von den Angehörigen der 21 Todesopfer ist an diesem Morgen nur Gabriele Müller anwesend, die Mutter von Christian aus Hamm. „Für mich ist bis heute nicht geklärt: Warum ist das passiert?“, sagte sie vor dem Beginn des Verhandlungstages.

Gabriele Müller hat ihren Sohn Christian durch die Loveparade-Katastrophe verloren. „Warum ist das passiert?“, fragt sie bis heute.
Gabriele Müller hat ihren Sohn Christian durch die Loveparade-Katastrophe verloren. „Warum ist das passiert?“, fragt sie bis heute. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Richter begründet Einstellung ausführlich

Soweit es das Verfahren aufklären konnte, will der Vorsitzende Richter Mario Plein diese Fragen am letzten Verhandlungstag beantworten. Anderthalb Stunden lang liest er die schriftliche Begründung des Einstellungsbeschlusses vor, anschließend spricht er frei anhand von Plänen und Fotos weiter. „Wir haben zu Anfang niemals für möglich gehalten, dass wir hier so vieles aufklären können“, sagt Plein. „Wir haben die Ereignisse um die Loveparade aufgeklärt.“

Das Gericht ist in den knapp zweieinhalb Jahren Prozess zu dem Schluss gekommen, dass „Fehler in Planung, Durchführung und Umsetzung zusammengewirkt“ hätten: Rückstaus an den Vereinzelungsanlagen, Polizeiketten, die nicht hielten, fehlende oder wegen mangelnder Funkverbindung schlechte Absprachen. „Es wurde verkannt, dass die Zäune Engstellen waren“, sagt Richter Plein.

Veranstaltungskonzept für Loveparade war „nicht geeignet“

„Vorhersehbar“ und „vermeidbar“ sind Adjektive, die Plein an diesem Vormittag oft benutzt. Die Angeklagten hätten erkennen können und müssen, dass die erheblichen Menschenmengen zu Drucksituationen führen würden. Die Steuerung am Veranstaltungstag sei unkoordiniert gewesen, das Veranstaltungskonzept nicht geeignet.

Gegen 16.30 Uhr entstanden aus dem Gedränge fremdbestimmte Wellenbewegungen. Spätestens um 16.49 gingen Menschen zu Boden und lagen in Menschenhaufen aufeinander. „Es hätte am Tag noch Möglichkeiten gegeben, die tragischen Ereignisse zu verhindern“, sagt Plein. Erst durch die Öffnung der Zäune seien sie nicht mehr aufzuhalten gewesen.

Tunnel war nicht der neuralgische Punkt, sondern die Rampe

Zentrales Problem aus Sicht des Gerichts: die Rampe, die zugleich zu- und Abgang war. „Viele Leute denken, man hätte den Tunnel nicht nutzen dürfen, aber das war nicht der neuralgische Punkt.“ Dadurch, dass die Ankommenden am Ende der Rampe stehenblieben, verschärfte sich die Situation.

Ausgangspunkt, so das Gericht, sei also eine fehlerhafte Planung gewesen. Es habe aber auch eine Mitschuld Dritter gegeben. Plein nennt explizit Feuerwehr, Polizei, Stadt. „Sie waren alle im Boot, aber am Ende ergriff niemand mehr das Wort, als es um Bedenken ging.“

Loveparade – eine „Katastrophe ohne Bösewicht“

Plein spricht in der Rückschau von einer „Katastrophe ohne Bösewicht“. Den habe man im Prozess nicht gefunden. Das Wesentliche für ihn sei: „Wir können erklären, wie es zu der Katastrophe gekommen ist.“ Das sei kein Geheimnis mehr, „es liegt vor uns als klares Bild“.


Der Richter wendet sich an Gabriele Müller, die als einzige Opfer-Angehörige an diesem Montag im Gericht ist: „Quälen Sie sich nicht mit dem Gedanken, dass andere auch Schuld haben aber nicht zur Verantwortung gezogen wurden. Es ist niemand da, der aus unserer Sicht anders zur Verantwortung hätte gezogen werden müssen.“ Und: „Ich hoffe, dass Sie Ruhe finden.“

Gabriele Müller spricht nach der Verkündung noch länger mit Plein, erkennt später auf dem Flur an, der Vorsitzende Richter habe „einen Scherbenhaufen zusammengekehrt, den andere verursacht haben“.

Gutachter wird nun nicht mehr im Loveparade-Prozess gehört

Eigentlich war geplant, dass in diesem Frühjahr – endlich – noch ein Sachverständiger vortragen sollte. 3800 Seiten Expertise hatte Prof. Jürgen Gerlach bereits vor mehr als einem Jahr vorgelegt, nun sollte sein aktualisiertes Gutachten in den Prozess eingeführt werden.


Acht Verhandlungstage waren dafür veranschlagt – doch es kam nicht mehr dazu. Erst musste eine Richterin vorsorglich in Quarantäne, anschließend wurde der Prozess wegen der Infektionsgefahr für mehrere Wochen ausgesetzt. In der Karwoche dann die Überraschung: Die Strafkammer regte die Einstellung des Verfahrens an.

Paragraf 153: Einstellung wegen geringer Schuld

Das hatte sie schon einmal getan: Im Frühjahr vergangenen Jahres war das Verfahren, das wegen seiner schieren Größe in einem Gebäude der Düsseldorfer Messe stattfindet, gegen sieben von zehn Angeklagten eingestellt worden. Neben sechs Mitarbeitern der Duisburger Stadtverwaltung durfte unter dem Protest der Nebenkläger auch der sogenannte Gesamtleiter der Veranstaltung gehen – auf Grundlage des Paragrafen 153 der Strafprozessordnung: wegen geringer Schuld und geringem öffentlichen Interesse an einer Strafverfolgung.

Dass der Prozess nicht schon damals endete, lag am Widerspruch dreier Angeklagter: Die ehemaligen Mitarbeiter der Veranstalter-Firma stimmten einer Einstellung gegen Auflagen nicht zu; sie hätten als Einzige eine Geldauflage zahlen sollen. Das Gericht verhandelte also weitere gut 80 Tage weiter, gegen den Technischen Leiter (67), den Sicherheitschef (60) und den Produktionsleiter (43) von Lopavent. Sicherheitsleute, Feuerwehrmänner, Polizisten, die ehemaligen Angeklagten sagten aus, viele mit denselben großen Erinnerungslücken, mit denen die Zeugen seit Prozessbeginn im Dezember 2017 aufgefallen waren.

„Mit einer erheblichen Dauer des weiteren Verfahrens ist zu rechnen“

Nun aber riss die Pandemie ein zeitliches Loch in die Beweisaufnahme; mehrere Prozessbeteiligte, darunter Angeklagte und Schöffen, gehören zur Risikogruppe. Ohnehin drohte dem Verfahren die Verjährung: Ende Juli liegt es ein Jahrzehnt zurück, dass das Duisburger Technofest sein tragisches Ende nahm. Damit fällt im Sommer der Vorwurf der fahrlässigen Tötung weg. Ob auch die Anklage wegen fahrlässiger Körperverletzung verjährt, wurde zuletzt umfangreich geprüft, weitere Gutachter waren bestellt. Es sei, hieß es in einer Mitteilung des Gerichts Anfang April, „mit einer erheblichen Dauer des weiteren Verfahrens zu rechnen“.

Die Kammer hielt es „zwar für wahrscheinlich, dass den Angeklagten die ihnen vorgeworfene Tat nachgewiesen werden könnte“, es bestehe aber aufgrund des Zeitdrucks „nur noch eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit, den angeklagten Sachverhalt verurteilungsreif aufzuklären“. Auch dürfte eine etwaige Schuld der Angeklagten „nach allen bisher vorliegenden Erkenntnissen als gering angesehen werden“. Eine Strafe würde sich allenfalls im unteren Bereich des Strafrahmens bewegen.

Gutachter: „Die einzelnen Ursachen haben gemeinsam gewirkt“


Die Staatsanwaltschaft Duisburg stimmte dem Vorschlag der Richter zu. „Bei Würdigung der Gesamtumstände erscheint die Fortführung des Prozesses (...) mit Blick auf die Strafe, die die Angeklagten zu erwarten hätten, als nicht mehr verhältnismäßig“, erklärten die Ankläger. Keiner der Angeklagten habe, so die Sicht der Staatsanwälte, „gewissenlos oder aus ethisch verwerflichen Motiven“ gehandelt.

Ebenso wie die Kammer hätten sie zwar gern den Gutachter noch gehört, doch sei das wegen der Corona-Einschränkungen wohl kaum mehr möglich. Zudem hatte Prof. Gerlach zuvor schriftlich erklärt, dass sich in der Hauptverhandlung zuletzt keine wesentlichen Änderungen seiner Einschätzung ergeben hätten. „Die einzelnen Ursachen haben gemeinsam gewirkt“, hat Gerlach bereits mehrfach gesagt.

„Maßlose Enttäuschung“ bei Angehörigen

Genau dagegen aber liefen die Nebenkläger Sturm: Zwar entscheiden sie, anders als Richter, Staatsanwälte und Angeklagte, im Vorfeld des Einstellungsbeschlusses nicht mit, wohl aber hatten sie das Recht zur Stellungnahme. Einen „schwarzen Tag“ für Angehörige und Geschädigte nannte der Düsseldorfer Rechtsanwalt Prof. Julius Reiter, prominenter Vertreter vieler Nebenkläger, den 7. April, als die Strafkammer die Einstellung erneut vorschlug. Er erklärte sein Bedauern darüber, dass „der Loveparade-Prozess nach nunmehr fast zehn Jahren Bearbeitung durch Polizei und Justiz ohne ein Gerichtsurteil enden wird. Die Geschädigten und die Angehörigen der Todesopfer sind maßlos enttäuscht.“ Schon die Teileinstellung im Februar 2019 hatte eine Hinterbliebene eine „demütigende Niederlage“ genannt.

In einem Appell an das Gericht schrieben 14 Nebenkläger-Vertreter im Namen ihrer Mandanten – Verletzte der Loveparade, aber auch Angehörige von Todesopfern – nun, es gebe „keinen zwingenden Grund, den Loveparade-Prozess vor der Anhörung des Sachverständigen einzustellen“. Man erhoffe sich von dem Gutachten „Struktur und Durchblick im Dickicht des sich mehrfach überlagernden, multikausalen Geschehens“. Rechtsanwalt Christoph Pipping, der den Bruder einer Heiligenhauserin vertritt, die drei Tage nach der Loveparade im Krankenhaus starb, warf dem Gericht vor, monatelang Zeugen gehört zu haben, die „wenig zur Aufklärung beitrugen“, statt den Sachverständigen früher zu hören.

Hinterbliebene zu „Objekten des Verfahrens degradiert“

Die Nebenkläger, so Pipping in einem Schreiben an die Kammer, das dieser Redaktion vorliegt, hätten „Anspruch auf Aufklärung der Ursache der Katastrophe“. Das wesentliche Ziel des Strafprozesses, „die öffentliche Aufklärung der Ursachen des Unglücks und damit die Antwort auf die nur allzu berechtigte Frage der Angehörigen und Verletzten, warum ihre Nächsten gestorben sind bzw. warum sie verletzt wurden“, sei nicht erreicht worden. Prof. Thomas Feltes, Opferanwalt des Vaters der getöteten Svenja aus Castrop-Rauxel, sieht die Nebenkläger zu „Objekten des Verfahrens degradiert“, die nun zum zweiten Mal die „Katastrophe nach der Katastrophe“ durchleben müssten. So wird aus seiner Stellungnahme zitiert.

Der „tageszeitung“ sagte Feltes, man sei vom „Vorpreschen des Gerichts überrumpelt worden“. Dem Verfahren fehle nun ein „würdiger Abschluss“.

>>INFO: DER PROZESS UM DIE LOVEPARADE VON DUISBURG

Sie haben 184 Verhandlungstage hinter sich: die Berufsrichter der 6. Großen Strafkammer des Duisburger Landgerichts.
Sie haben 184 Verhandlungstage hinter sich: die Berufsrichter der 6. Großen Strafkammer des Duisburger Landgerichts. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich


Bei der Loveparade, einem Technofest, das zuvor schon in Essen und Dortmund Station gemacht hatte, wurden im Gedränge auf der Zu- und Abgangsrampe am 24. Juli 2010 in Duisburg 21 Menschen getötet und 650 verletzt.


Nach jahrelangen Ermittlungen wurde der Prozess am 8. Dezember 2017 eröffnet – nach juristischem Tauziehen im zweiten Anlauf. Angeklagt waren sechs Angestellte der Stadt Duisburg aus dem Bereich Bau sowie vier Mitarbeiter des Veranstalters Lopavent. Der Vorwurf: fahrlässige Tötung und Körperverletzung.

In der Anklage geht es im wesentlichen um Fehler bei Planung und Genehmigung. Nach 100 Verhandlungstagen und einem Rechtsgespräch wurde das Verfahren im Februar 2019 gegen sieben Angeklagte eingestellt. Wegen geringer Schuld und unter Protest vieler Nebenkläger. Seither sitzen nur noch drei Männer auf der Anklagebank.

Der Prozess, einer der größten Strafprozesse der deutschen Nachkriegszeit, findet wegen seiner vielen Beteiligten in einem Gebäude der Düsseldorfer Messe statt. Allein die Miete für den Saal mit seiner modernen technischen Ausstattung schlägt mit 29.000 Euro zu Buche – pro Verhandlungstag.