Mülheim. Der Kinderschutzbund schließt seine Beratungsstelle in Mülheim aus finanziellen Gründen. Er erhebt Vorwürfe gegen die Stadt – die kontert scharf.
Der Deutsche Kinderschutzbund (DKSB) schließt seine Mülheimer Beratungsstelle gegen Vernachlässigung, Misshandlung und sexuellen Missbrauch zum 30. Juni. Das Angebot sei nicht mehr zu finanzieren. Dabei erhebt der Kinderschutzbund Vorwürfe gegen das Land und die Stadt Mülheim. Die wiederum kontert scharf.
„Wir haben bereits vor einem Jahr auf die Unterfinanzierung hingewiesen, aber weder durch das Land noch durch die Kommune effektive Unterstützung bekommen“, teilt Melanie Oechler, Vorsitzende des DKSB Ortsverbandes Mülheim, mit. Der Verein finanziere sich zu über 50 Prozent aus Spendengeldern und Mitgliedsbeiträgen. Da das Spendenaufkommen zurückgehe und die öffentlichen Fördergelder nicht ausreichten, habe man nun diesen Schritt gehen müssen.
Stadt Mülheim und Land NRW tragen zu wenig zur Finanzierung bei
„Das war eine schmerzliche Entscheidung“, sagt Mauno Gerritzen, Geschäftsführer des Paritätischen, der als Träger fungiert. „Wir mussten die Reißleine ziehen, um den Verein zu retten.“ 21.000 Euro trage die Kommune zum Kinderschutzbund bei, 18.000 Euro das Land – das reiche nicht bei jährlichen Ausgaben von rund 85.000 Euro.
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Schon vor zwei Jahren hat der Verein auf die finanziellen Nöte aufmerksam gemacht, habe „intensiv versucht, eine Lösung zu finden“ mit der Stadt, mit dem Land. „Die Verantwortung wird von der Kommune aufs Land geschoben und andersrum“, kritisiert Gerritzen. Letztlich sei es originäre Aufgabe der Kommune, ein breites Beratungsangebot aufrecht zu erhalten.
Stadt Mülheim erhebt Gegenvorwürfe gegen Kinderschutzbund
Die Stadt weist die Anschuldigungen des Kinderschutzbundes scharf zurück. „Wir waren mit dem Kinderschutzbund in intensiven Gesprächen, wie das Angebot aufrecht erhalten werden könne, die jetzige Ankündigung macht mich sprachlos“, sagt Sozialdezernent Marc Buchholz und erhebt Gegenvorwürfe: „Vielmehr war es so, dass trotz einer vertragsgemäßen Finanzierung teilweise aufgrund von fehlenden personellen Ressourcen beim Kinderschutzbund die Leistung nur zur Hälfte oder gar nicht erbracht werden konnte“, so Buchholz. „Trotz alledem haben wir den Kinderschutzbund nicht im Regen stehen lassen und gezahlt.“
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Gezahlt ja, sagt da Mauno Gerritzen – aber auch wieder zurückgefordert. Es sei richtig, dass es mehrere personelle Wechsel gegeben habe und die Besetzung der Beratungsstelle nicht dauerhaft vollständig gewesen sei. „Deswegen hat die Stadt die öffentlichen Fördergelder auch zum Teil wieder zurückgefordert.“ Diese Rückforderung sei jedoch zunächst mündlich erfolgt, offiziell schriftlich noch nicht.
Irritiert ist Gerritzen davon, dass der Dezernent mit Unverständnis auf die Mitteilung reagiert, habe doch der Kinderschutzbund das Jugendamt bereits am 23. Mai über die notwendige Schließung informiert. „Es dauerte zehn Tage, bis eine Reaktion kam“, sagt Melanie Oechler. Marc Buchholz verweist auf einen vereinbarten Gesprächstermin am 18. Juni, nennt es einen „Skandal“, dass der Kinderschutzbund mit seiner Mitteilung nun „Fakten schafft“. Oechler sagt, sie werde den Termin nicht absagen, aber es sei für den Verein nicht mehr tragbar, Eigenmittel in die Beratungsstelle zu stecken.
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Erschütternde Missbrauchsfälle in Lügde und Münster
Bei allem Unmut zwischen Kinderschutz und Stadt ist indessen klar: Die Schließung reißt eine tiefe Lücke in das Hilfsangebot der Stadt. Denn für Kinder unter 14 Jahren war die Beratungsstelle auf der Schloßstraße ein wichtiger Anlaufpunkt. Und auch Lehrer und Erzieher konnten sich in Verdachtsfällen an den Kinderschutzbund wenden – das bricht nun weg. Zwar gebe es, so Gerritzen, immer die Möglichkeit, sich ans Jugendamt zu wenden. „Aber die Hemmschwelle ist oft höher als bei einem freien Träger.“
Vor dem Hintergrund der erschütternden Missbrauchsfälle in Lügde und Münster und vermehrter Meldungen von Kindeswohlgefährdungen sei es besonders prekär, dass „in Mülheim sehenden Auges hingenommen“ werde, dass die Beratungsstelle wegbricht.
Hilfsangebote sind oft zum Großteil durch Spenden finanziert
Ein Problem, das in der Finanzierungsstruktur liege. „So wie in Mülheim sind landesweit viele spezialisierte Beratungsstellen unterfinanziert“, sagt Krista Körbes, NRW-Landesgeschäftsführerin des Kinderschutzbundes. Seit den 1990er Jahren habe es keine Anpassung der Fördergelder des Landes gegeben. Auch andere Mülheimer Hilfsangebote, wie zum Beispiel das „Ele-Phon“ der Awo, werden durch Spenden aufrecht erhalten.
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Die Entscheidung zur Schließung der Kinderschutz-Beratungsstelle kommt wenige Monate, nachdem die Einrichtung sich neu ausgerichtet hat. Im Februar hatte sie sich mit den Themen Misshandlung, Vernachlässigung und sexualisierter Gewalt einen Arbeitsschwerpunkt gesetzt. Schon damals sagte Vorsitzende Melanie Oechler: „Um die Beratungsstelle zu sichern und Fachkräfte zu beschäftigen, braucht es eine bessere finanzielle Grundlage, damit es kalkulierbar wird.“ Passiert sei seitdem nichts, die finanzielle Situation habe sich nicht gebessert.
Entsetzen und Bedauern bei Parteien
Kleiderladen im Mai geschlossen
Erst vor drei Wochen musste der Kinderschutzbund bekannt geben, dass er seinen Kleiderladen auf dem Dickswall schließt. Eigentlich sollte er im Spätsommer dichtmachen, die corona-bedingte wochenlange Schließung hat das Ende schneller kommen lassen. In dem Kleiderladen wurden gebrauchtes Spielzeug und Kleidung für wenig Geld verkauft. „Es ist kein gutes Jahr für den Kinderschutzbund in Mülheim“, sagt Mauno Gerritzen.
Trotzdem werde sich der Kinderschutzbund in Mülheim weiter engagieren. Welche Angebote es genau geben werde, sei noch nicht klar.
Die Mülheimer Grünen sind „entsetzt“ von der Entscheidung: „Dass das Aus jetzt so plötzlich kommt, ist absolut unfassbar. Das Corona-Brennglas hat jedem verdeutlicht, wie wichtig Beratungsstellen zum Schutz der Kinder sind“, erklärt Parteisprecherin Kathrin Rose. Die Schließungsnachricht sei einzig eine gute für Täter. Die Grünen-Fraktion bittet nun für den Hauptausschuss um Stellungnahme der Verwaltung.
Auch der fraktionslose Stadtverordnete Jochen Hartmann reagiert mit „Entsetzen und Bedauern“ auf die Nachricht. „Ich hoffe, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.“