Mülheim. Der DGB in Mülheim spürt dank Corona Rückenwind für jahrelange Forderungen in Pflege und Dienstleistung. Warum er das nicht richtig feiern kann.
Eigentlich hält die Corona-Pandemie einen gewaltigen Rückenwind für die Gewerkschaften bereit: Kita-Betreuerinnen, Reinigungskräfte, Kassiererinnen – sie alle gelten inzwischen als ebenso systemrelevant wie einst Banken. Die Sache hat nur den Haken: Wenn der DGB am traditionellen 1. Mai seine jahrelange Schlacht um mehr Anerkennung für diese Berufe feiern könnte, gilt die Kontaktsperre. Und so wird die Mülheimer Kundgebung nur virtuell zelebriert – auf dgb.de.
Demonstrieren auf der Datenautobahn statt öffentlichkeitswirksam auf der Straße? Seit 1949 ist das nicht vorgekommen. Und so ganz geheuer ist das den „alten Hasen“ der Gewerkschaften ja nicht, zumal auch 75 Jahre DGB in Mülheim und 130 Jahre „Kampftag der Arbeiterbewegung“ zu zelebrieren wären.
Videobotschaft von Mülheims OB Scholten zum Tag der Arbeit
„Wir lernen aber dazu“, lobt DGB-Regionsgeschäftsführer Dieter Hillebrand etwas verschmitzt die jungen Internet-Affinen, die zum Tag der Arbeit an einem bundesweiten Livestream werkeln mit Musikern, Gesprächen und natürlich den traditionellen Kampfreden, die die Solidarität beschwören: „Solidarisch ist man nicht alleine“, lautet die offizielle 1.-Mai-Botschaft für 2020.
Das wäre auf dem Mülheimer Rathausmarkt auch der öffentliche Auftakt für den lange Zeit erkrankten Oberbürgermeister Ulrich Scholten geworden. Jetzt wird der OB sich immerhin per Videobotschaft an die Mülheimer Bürger richten. An seiner Seite sprechen der Jung-SPDler und Mülheimer DGB-Vorsitzende Filip Fischer, die ehemalige stellvertretende DGB-Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil.
Gewerkschaften sehen sich durch Corona gestärkt
Im Kern sehen sich alle Gewerkschaften durch Corona gestärkt, vermittelt Hillebrand. Soeben haben Gewerkschaftsbundmitglieder wie IG Metall die langersehnte Forderung nach Aufstockung des Kurzarbeitergeldes auf bis zu 80 Prozent erzielt. Wenn auch erst nach sieben Monaten, bedauert Filip Fischer, der sich 80 Prozent „vom Tag Eins“ erhofft hat.
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Auch der Anerkennung der Angestellten im Handel, in der Dienstleistung und in der Pflege sieht Verdi-Mann Bernt Kamin-Seggewies sich derzeit einen guten Schritt näher. Es gehe aber darum, ihnen nicht nur als „Helden der Krise“ zu applaudieren, sondern sie nach der Krise auch entsprechend zu bezahlen und das zu finanzieren.
IG Bau: Kaufkraft für Wiederaufschwung fehlt
Gewerkschaften spüren somit Rückenwind, um zukünftige Forderungen an die Arbeitgeber umzusetzen, etwa die Absicherung von Arbeitsplätzen, Stellenausbau und den Mindestlohn von zwölf Euro. Denn aktuell fehle aufgrund von schlechten Löhnen und geringfügiger Beschäftigung auch die Kaufkraft für den Wiederaufschwung, argumentiert Peter Müller von IG Bau, der ebenfalls die Reinigungskräfte vertritt. Oft seien es Frauen, die in Teilzeitarbeit auf 450-Euro-Basis arbeiten und nun nicht einmal Kurzarbeitergeld bekommen.
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„Der Ruf der Unternehmer nach dem Vater Staat ist gerade sehr laut“, merkt Müller nicht ohne Genugtuung an. Jahrelang haben sich Gewerkschaften mit dem Satz „Der Markt regelt das“ belehren lassen müssen. Nun erweise sich der von Arbeitgebern und -nahen Parteien gern propagierte „reine Kapitalismus“ gegen die Krise als äußerst anfällig.
IG Metall: Betriebsräte stehen in der Krise zu ihren Unternehmen
Programm am 1. Mai
Unter dem Motto „Solidarisch ist man nicht alleine!“ senden die Gewerkschaften am Tag der Arbeit, 1. Mai, ihre Kundgebung ab 9.30 Uhr live auf der Plattform: dgb.de/erstermai.
Um 9.30 Uhr startet man aus der Meo-Region in Mülheim mit Filip Fischer, Ulrich Scholten, Ursula Engelen-Kefer und Hubertus Heil. Um 10 Uhr wird aus Essen gesendet mit Dieter Hillebrand (DGB), OB Thomas Kufen, Cosima Steltner (DGB-Jugend) und Jürgen Kerner (IG Metall). Ab 10.30 Uhr ist Oberhausen an der Reihe mit Thomas Schicketanz (DGB), OB Daniel Schranz und Carsten Burckhardt (IG Bau).
„Die Mitbestimmung der Betriebsräte ist wichtiger denn je“, argumentiert Dirk Horstkamp (IG Metall) für das produzierende Gewerbe. So haben Betriebsräte in der Krise zu ihren Unternehmen und Arbeitgebern gestanden: Sie haben in den Firmeninternen Krisenräten gewirkt, bauten gemeinsam Produktionszeiten um, veränderten Schichten, damit der Betrieb weiterlief.
„Der Blick auf die eigentlich systemrelevanten Berufe hat sich verändert“, glaubt nicht nur Horstkamp. Von DGB bis Verdi ist man sich nicht nur für den Tag der Arbeit einig: „Es darf deshalb nach der Krise keinen einfachen Reset geben.“