Mülheim. Einkaufen in Corona-Zeiten nervt besonders. Mülheimer Kunden reagieren zunehmend aggressiv. Die Leidtragenden sind immer öfter die Mitarbeiter.

Jeden Abend werden sie noch als „Helden der Krise“ von Balkonen aus mit reichlich Applaus bedacht, doch am nächsten Morgen sieht der Alltag von Mitarbeitern in Mülheimer Supermärkten und Discountern anders aus: Ruppige Repliken, wenn sie Kunden auf Abstand hinweisen, wenn Artikel aus sind, wenn Kunden einen Einkaufswagen nehmen müssen, um das Geschäft zu betreten. Aus Händeklatschen werden dann sogar Handgreiflichkeiten.

Davon berichtet eine Mitarbeiterin aus einem Discounter in Saarn, die ihren Namen nicht nennen will. Es sei sehr anstrengend, weil Kunden vermehrt die Nerven verlieren. In der vergangenen Woche hätte es unter den Kunden beinah eine Prügelei vor dem Discounter gegeben. Heimlich fließen bei den Mitarbeitern auch mal Tränen unter diesem Druck.

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Mit dem geforderten Abstand warten Kunden am Samstag in Mülheim-Saarn vor einer Filiale des Lebensmittel-Discounters Aldi Süd an der Düsseldorfer Straße.
Von Mareike Kluck, Anna Pahl und Dennis Vollmer

Mülheimer ärgern sich bei Facebook über Supermarkt-Regeln

Wie kurz die Zündschnur bei Kunden ist, kann man auch auf Facebook erleben: „Nur an Ihrem Eingang wird paramilitärisch abgefertigt. Nur eine Person pro Haushalt ist lächerlich. Zumal wenn man mit seinem Partner das Bett teilt“, beschwert sich jemand auf der Seite „Die Heimaterdler“ über Maßnahmen im Edeka-Supermarkt Kels, die hier und überall nur einen Sinn haben: den Schutz der Kunden – offenbar auch vor sich selbst.

Der Inhaber Felix Theodor Kels wirbt in den sozialen Medien emotional und sachlich um Verständnis: „Durch jene Maßnahme versuchen wir, das Infektionsrisiko für alle Personen im Gebäude zu reduzieren. Leider ist im Moment nicht die Zeit für den Erlebniseinkauf. Leider ist nicht die Zeit für den Familieneinkauf und leider können unsere Märkte im Moment nicht mehr als sozialer Treffpunkt fungieren.“ Die Sorge, dass solche Beschwerden – auch unberechtigte – hängen bleiben und den Ruf des Geschäfts beschädigen könnten, ist groß.

Hefe gibt es nur noch an der Bedienungstheke

Was Kels an Kritik erlebt, ist jedoch kein besonderer Einzelfall, bestätigt auch Rewe-Leiter Patrick Geisler. Rund 15.000 Kunden bedient sein Geschäft an der Heidestraße wöchentlich. Natürlich zeigten die meisten Kunden Verständnis, doch bei den „Ausreißern“ nehme die Schärfe extrem zu. Wenn das Klopapier fehlt, wenn Ware nachgepackt werden muss, heißt es barsch: „Dann müssen sie eher anfangen!“

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Knapp sind auch Dosentomaten, Fertiggerichte, Küchentücher, weil sie gehamstert werden. Und Hefe gibt’s bei Geisler nur noch an der Bedienungstheke. Auch, weil man sie im Einkauf nur blockweise besorgen kann.

Schutz für die Mitarbeiter: Plexiglas, Desinfektionsmittel, Mundschutz

Noch schlage die Krisen-Stimmung hier nicht auf die Mitarbeiter, sagt Geisler, er tue auch einiges dafür: Plexiglas-Schutz an der Kasse, Desinfektionsmittel und Mundschutz stelle er ihnen zur Verfügung. Und für die Kunden kaufe er verstärkt auch bei anderen Großhändlern ein, um gefragte Waren anbieten zu können. Das besänftige die Menschen. Die Ware allerdings gebe es schon im Einkauf teils nur noch mit 50- bis 100-prozentigem Aufschlag.

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Die Maßnahmen bei Geisler dürfte die Mülheimer Verdi-Geschäftsführerin Henrike Eickholt freuen. „Wir glauben, dass bei manchen Arbeitgebern noch mehr getan werden muss für den Schutz der Angestellten.“ Nicht nur mehr Desinfektionsmittel direkt an der Kasse, auch emotionaler Schutz.

Denn auch wenn bei der Verdi-Frau aktuell noch keine Beschwerden von Mitarbeitern im Lebensmitteleinzelhandel eingegangen sind, „ich erlebe, dass die Menschen beim Einkauf zunehmend aggressiv reagieren“. Auch aus Sicht der Gewerkschaft sind die Hygienemaßnahmen und Eingangsbegrenzungen wichtig, um der Ausbreitung des Coronavirus entgegenzuwirken.

Mehr Menschlichkeit

Mehr Menschlichkeit fordert Henrike Eickholt von den Kunden: „Unter der Krise leiden alle. Ich appelliere, dass man den Mitarbeitern in den Supermärkten und Discountern mit Freundlichkeit und Verständnis begegnet. Sie müssen geschützt werden.“

Für Arbeitnehmer hat Verdi eine Hotline und E-Mail-Kontakte eingerichtet: bz.ruhr-west@verdi.de sowie 4567121. Corona-Hotline: 0800 8373416.

Infektionen könnten durch vorschnelle Lockerungen steigen

Einer Lockerung sieht Eickholt derzeit skeptisch entgegen. „Wir sehen natürlich, dass die Krise die Wirtschaft, besonders die Arbeitnehmer mit Kurzarbeit und sogar Kündigungen, katastrophal trifft.“ Umso erstaunter ist die Gewerkschaftlerin allerdings über die offenbar unterschiedlichen Lockerungen der Bundesländer: „Vorher gab es nur die Devise, die Neuinfektionen niedrig zu halten.“

Es gäbe aus ihrer Sicht nichts Fataleres, als wenn durch vorschnelle Lockerungen die Infektionen steigen und die Anstrengungen der Arbeitnehmer und -geber zunichte gemacht würden.