Mülheim. Obwohl für Bürger über 60 die Empfehlung gilt, besser zu Hause zu bleiben, lassen sie sich vom Einkaufen nicht abhalten. Sie vermissen Kontakte.
Nachbarschaftshilfen und Bringdienste haben in diesen Wochen der Kontaktsperren Hochkonjunktur. Vor allem die Generation über 60 sollte zu Hause bleiben, um sich nicht mit dem Coronavirus zu infizieren. So lauten die Empfehlungen der Gesundheitsexperten und die Ansagen der Politiker. Aber das wirkliche Leben sieht oft anders aus. Viele Senioren sind auf wackeligen Beinen unterwegs, weil ihnen in den eigenen vier Wänden längst die Decke auf den Kopf fällt.
Ein Lagebericht aus dem Saarner Dorf. Momentaufnahmen, die keinesfalls repräsentativ sein müssen. „Es ist so ein schönes Wetter. Da kann man nicht drinnen bleiben. Wir wollen sehen, was es auf dem Markt gibt.“ Christel Hinn und Ehrenfried Burr möchten frisches Obst und Gemüse besorgen. „Das machen wir gerne noch selbst. Die Sachen bringen lassen, das können wir uns nicht leisten.“
Mülheimer Senioren: „Bei schönem Wetter muss man raus.“
Angst vor einer Ansteckung haben die beiden nicht. „Wir sind an der frischen Luft und halten zu den anderen Abstand. Das sind doch die Regeln. Oder soll es noch mehr Verbote geben?“, fragen sie. Eine Seniorin verbindet den Gassigang für ihren Hund mit einem Marktbesuch. „Ich bin jetzt bald 81. Was soll mir noch passieren? Ich hatte bis jetzt ein gutes Leben. Mundschutz und Handschuhe brauche ich nicht.“ Sie möchte ihren Namen nicht in der Zeitung lesen: „Nachher kommt noch die Polizei und bringt mich in ein Krankenhaus.“
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„Meine Kinder wollen immer für uns einkaufen. Aber die haben doch selbst kam Zeit, wo sie sich jetzt um meine Enkel kümmern müssen“, beschreibt ein Rentner seine Lage. „Da gehen wir lieber in Ruhe für uns. Dann haben wir die nötige Bewegung und sehen, was sich verändert hat“, fügt die Gattin hinzu. Sonja Tschischkowa ist mit dem Auto aus Moers über den Rhein nach Saarn gekommen. Sie begleitet ihre Mutter Galina auf dem Spaziergang. „Man kann die Leute doch nicht dauerhaft wegsperren. Vor dem Fernsehen wird man ja verrückt.“
Die Kinder wollen helfen, haben aber wenig Zeit
„Ich möchte meine Bekannten treffen. Die sind an den Markttagen immer im Dorf unterwegs“, fügt Galina Smolenska hinzu. Sie schaut sich um, lächelt und streckt den Arm aus: „Da ist Irina, lass uns hingehen.“ Schon parlieren die drei Frauen – mit dem gebotenen Abstand – in ihrer Muttersprache. „Wir haben uns immer viel zu erzählen.“ Genau aus diesem Grund ist auch Luise mit ihrem Rollstuhl auf Achse. „Meinen Nachnamen sage ich nicht. Sonst bekomme ich noch Ärger mit den Behörden. Wir Alten sollen ja nicht raus. Aber ich brauche Kontakt mit Bekannten und Bewegung.“
„Du kannst ja allein durch die Straßen und an der Ruhr spazieren“, sagt dazu ihre Bekannte Petra. „Aber allein durch die Gegend laufen? Das sieht doch so aus, als hätte ich den Anschluss verpasst“, antwortet Luise. „Ich will mich nicht abschieben lassen. Da hält mich auch Corona nicht auf.“
Den Anschluss will man nicht verpassen
„Mittwochs kommen mehr Senioren auf den Wochenmarkt“, sagt Hans-Werner Moritz. Er verteilt seit einiger Zeit die Eintrittskarten am Eingang und hat den Überblick. „Viele treffen sich hier, um auch zu Quatschen. Das läuft auch jetzt noch so auf dem Bürgersteig vor dem Platz.“
„Meine Tochter hat mir so einen Mundschutz genäht. Jetzt verstehen mich die Leute zwar nicht mehr so gut. Aber es soll helfen“, antwortet Jürgen Polmeyer. Der 78-Jährige möchte nach den Feiertagen beim Metzger ein paar Portionen Möhren mit Mettwurst kaufen. „Ich brauche keinen Bringdienst. Ich möchte selbstständig bleiben – so lange es geht. Ich habe keine Angst vor Corona, habe schon andere Krankheiten überstanden.“
Der Plausch mit den Bekannten fehlt
Die meisten Senioren haben zwar Verständnis für das Begegnungsverbot, und sie halten sich auch daran. Aber vor allem Alleinlebende vermissen den Kontakt zu jungen Familienangehörigen, Bekannten und Freunden.
Darum nutzen sie die bekannten Gelegenheiten wie Markttage, um dort jemanden zu treffen. Auch der Plausch mit den Verkäuferinnen auf dem Markt fehlt ihnen. Man sollte aber zügig einkaufen, damit auch andere noch drankommen.
Eine Dame mit Mund- und Nasenschutz sowie Handschuhen sieht das anders: „Man kann nicht vorsichtig genug sein. Ich bleibe nur nicht zu Hause, weil ich sehen möchte, was ich kaufe. Wenn Fremde das bringen, weiß ich ja nicht, wer das schon alles angefasst hat“, sagt sie. „Aber an den Ostertagen war ich nur zu Hause. Da waren mir zu viele Menschen unterwegs.“ Das Gedränge in Saarn habe nachgelassen. „Es gibt nur noch wenige, die mir zu nahe kommen. Das sind die ungeduldigen Rentner, die nie Zeit haben. Mit Mitte 70 wird man gelassener.“
„Die meisten Menschen reagieren ja nur noch frustriert.“
„Seit mehr als vier Wochen beschränkt uns der Staat. Das muss bald ein Ende haben. Man kann nicht nur in der Stube hocken. Ich war immer unterwegs, fahre mit dem Bus in die Stadt und besuche Freunde in den Nachbarstädten“, sagt ein rüstiger Senior. „Meinen Namen bekommen sie nicht, auch kein Foto. Sie könnten ja vom Ordnungsamt sein“, unterstellt er dem Reporter. „Es gibt auch andere ansteckende Krankheiten. Da wird nicht so viel Wind gemacht. Ich will wieder in die Kneipe und mit Freunden Spaß haben. Die meisten Menschen reagieren ja nur noch frustriert“, macht er seinem Ärger Luft.