Mülheim. Mülheims Siemens-Werk will sich neu ausrichten, hin zu Energiewende-Technologien. Eine Zukunftsmesse zeigte jetzt, was möglich werden soll.

Innovation soll dem Siemens-Standort Mülheim, mit 4500 Beschäftigten der größte in Nordrhein-Westfalen, eine sichere Perspektive bringen. Während der Abbau von mehreren hundert Stellen noch läuft, baut die verbliebene Mannschaft an einer „Zukunftsfabrik Mülheim“. Bei einer Messe präsentierten die Mitarbeiter nun, was alles auf den Weg gebracht ist.

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Vor dem Rundturm an der Mellinghofer Straße bringen immer wieder Busse neue Besucher zur Messe. Es sind Kunden, aber insbesondere auch Kollegen vom Standort, die sich begeistern lassen können. Die den Strukturwandel am Werksstandort anhand von fast 50 Innovationsprojekten vorgestellt bekommen. Die ihn vertiefend diskutieren können.

„Der Standort Mülheim muss sich ein Stück weit neu erfinden, neu ausrichten“

Der Absatzmarkt für konventionellen Kraftwerksbau wird kleiner. Siemens in Mülheim mit seiner Expertise für eben jene Technik (Dampfturbinen und Generatoren) muss reagieren, will man nicht in einen Abwärtsstrudel geraten. „Der Standort muss sich ein Stück weit neu erfinden, neu ausrichten“, sagt denn auch Norbert Henkel am Rande der angelaufenen Mülheimer Innovationstage. Henkel hat die Federführung im Transformationsprozess vor Ort inne, er selbst gibt sich bescheiden: „Ich repräsentiere nur das Team.“

Norbert Henkel koordiniert am Siemens-Standort Mülheim die Transformation Richtung Energiewende-Technologien. Hier zeigt er, auf wie vielen Feldern Siemens in dieser Sache aktiv ist.
Norbert Henkel koordiniert am Siemens-Standort Mülheim die Transformation Richtung Energiewende-Technologien. Hier zeigt er, auf wie vielen Feldern Siemens in dieser Sache aktiv ist. © FUNKE Foto Services | Michael Dahlke

Es steckt eine Idee dahinter, dass Henkel seine Person so klein macht. Siemens setzt in seinem Transformationsprozess auf flache Hierarchien, das Zutrauen in die Mitarbeiter soll so unterstrichen werden. Jeder soll sich mit seiner Innovationskraft einbringen können, ohne wegen jeder Kleinigkeit gleich beim Vorgesetzten vorsprechen zu müssen.

Teams sollen sich selbst organisieren und Raum haben für Innovationen

Nicht nur um eine technologische Transformation in die Zeit der Energiewende gehe es, sagt Henkel. Er spricht auch von „kultureller Transformation“ in der Mülheimer Siemens-Familie. Ein bisschen wolle man agieren wie ein kleines Start-Up – mit selbst organisierten Teams, denen Raum gegeben werde, innovativ zu sein.

Auf der Zukunftsmesse im Siemens-Turm ist das an diesem Tag zu spüren. Hier präsentieren Mitarbeiter einen Roboter aus dem 3D-Drucker, der bei Wartungen durch Generatoren gesteuert werden kann, nebenan verspricht eine fliegende Balldrohne ebensolches für das Servicegeschäft bei Dampfturbinen. An zahlreichen anderen Ständen ist die Energiewende dominantes, handlungsleitendes Thema.

Team arbeitet in Kooperation mit Kraftwerksbetreibern an CO2-freiem Kraftwerk

Maximilian Niederehe, Christian Scherhag und Maria Etzold repräsentieren ein Team von zehn, 15 Kollegen am Standort, die mit Spezialisten auch von anderen Standorten an einem Kraftwerk der Zukunft tüfteln, komplett CO2-frei. Die Vision: Wasserstoff wird unter Einsatz erneuerbarer Energien in einem Elektrolyseur produziert, gespeichert und zu Kraftwerken transportiert, um dort rückverstromt zu werden.

Mit Kraftwerksbetreibern weltweit, von Lingen im Emsland bis Kashima in Japan, kooperiert Siemens in dieser Sache. Ein Reallabor gibt es in der Zusammenarbeit mit der Steag in saarländischen Völklingen. Ohne Strom- und Wärmeproduktion aus grünem Wasserstoff, ist sich Scherhag sicher, werde die Energiewende nicht gelingen.

Wasserstoff-Technologien als Schlüssel zur Energiewende

Transformations-Beauftragter Hensel sieht mannigfaltige Märkte, die Siemens für sich mit dem Wasserstoff-Thema erschließen könnte. Nicht nur in Kraftwerke lasse sich die innovative Technologie schrittweise installieren, so dass Gaskraftwerke mehr als nur eine Übergangslösung bei der Energiewende sein könnten. Auch die CO2-Problematik im Verkehr sei so in den Griff zu bekommen. Lösungspotenziale gebe es auch hinsichtlich industrieller CO2-Emissionen.

Thomas Bagus ist als Vertreter des Mülheimer Siemens-Werkes  Vereinsvorsitzender für das NRW-Spitzencluster „Industrielle Innovationen.
Thomas Bagus ist als Vertreter des Mülheimer Siemens-Werkes Vereinsvorsitzender für das NRW-Spitzencluster „Industrielle Innovationen. © FUNKE Foto Services | Michael Dahlke

Weg von fossilen Brennstoffen. „Wir wollen dabei eine große Rolle spielen“, sagt Hensel und verweist etwa auf die Expertise, die am Standort mittlerweile auch für die Fertigung von E-Schiffsantrieben gewachsen ist – und weiter wachsen soll. Möglichst noch 2020 soll die Produktion von Schiffsantrieben in Mülheim anlaufen, die nicht mehr nur am Rumpf eines Schiffes angebracht werden können, sondern auch innenliegend, berichtet das Entwickler-Team.

NRW-Spitzencluster setzt laut Siemens ungeheure Dynamik frei

Thomas Bagus, der bei Siemens den Dampfturbinen-Bereich leitet, ist seit jüngstem auch Vorsitzender des Vereins, der das vom Land gestützte NRW-Spitzencluster „Industrielle Innovationen“ steuert. Bagus sieht im Zusammenwirken von Land, Unternehmen und Wissenschaft eine ungeheure Dynamik freigesetzt, um innovativen Produkte zur Marktreife zu verhelfen.

Die ersten sechs Kooperationsprojekte laufen. „Wir haben mit der Grundlagenforschung, der Produktentwicklung, der Produktion, dem Service und dem Vertrieb hier am Standort sehr viel Innovationskraft“, ist Hensel sicher, für die Transformation des Standortes zum Energiewende-Spezialisten gut gerüstet zu sein.

„Ideen entstehen bei uns immer in der Raucherecke oder in der Kaffeeküche“

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„Solche Ideen entstehen bei uns immer in der Raucherecke oder in der Kaffeeküche“, erinnert sich Roland Sievert daran, wie eine laufende Siemens-Kooperation mit Stromnetzbetreiber Amprion ihren Anfang genommen habe. Sievert leitet am Standort den Bereich Generatoren. Sein Wissen bringt er nun in ein Projekt ein, an dessen Ende möglichst 2023 eine Pilotanlage in Betrieb gehen soll, die Amprion Netzstabilität gewährleistet – auch für die Zeiten, wenn immer weniger Kraftwerke am Netz und natürliche Lücken in der Stromerzeugung zu füllen sind.

„Amprion braucht dazu eine Anlage, die viel Energie speichert, die ganz schnell, innerhalb von fünf bis zehn Sekunden, ins Netz nachgespeist werden kann, um große Blackout-Flächen zu verhindern“, erläutert Sievert. Siemens und Amprion entwickeln eine ebensolche Anlage mit 120 Megawatt Speicherkapazität, kombiniert mit Technik für eine Kontrolle der Netzstabilität. Die wäre dann einzigartig, sagt Sievert.

Im Abschlussbericht zum Kohleausstieg sei eben dieses Pilotprojekt verankert worden, „damit sind wir jetzt förderfähig“, freut sich Sievert, dass das Projekt noch einmal Rückenwind bekommen hat.