Mülheim. Kurt Ludwig Lindgens ist ein Nachfahre der „Leder-Familie“. Mit besonderem Blick berichtet er aus der Vergangenheit und blickt in die Zukunft.
„Es hieße keine Gefühle zu haben, wenn mich das Ende dieser Geschichte der letzten Mülheimer Gerberei emotional nicht berühren würde, aber ich sehe es auch mit einem lachenden Auge. Es ist wirklich schön zu sehen, dass auf einer alten Industriebrache eines Tages Menschen wohnen, Kinder spielen und die unmittelbare Nähe des Flusses genießen werden“, sagt Kurt Ludwig Lindgens, während er auf das alte Gerberei-Gebäude der Lederfabrik seiner Familie schaut.
Ein Teil der Fabrikgebäude, das Kesselhaus und der alte Schornstein stehen unter Denkmalschutz und werden deshalb auch als Teil der neuen Wohnraumbebauung auf dem ehemaligen Gelände der Lederfabrik Lindgens erhalten bleiben. Für Lindgens ist es eine Ironie der Geschichte, „dass sich der jetzige Abriss unserer Produktions-Hallen zeitgleich zu einem Augenblick vollzieht, in dem auch die Tengelmann-Gebäude nicht mehr genutzt werden.“
Ein Blick in ein Fotoalbum aus vergangener Zeit
Während er die Straßenseite wechselt, erzählt Lindgens, dass die Gerber am Kassenberg früher ihre Lederböcke über die Straße geschoben haben, wo heute der dichte Autoverkehr fließt. Kurt Ludwig Lindgens, der ab 1994 als Geschäftsführer in der Lederfabrik gearbeitet hat, blättert in einem alten Fotokalender, den ihm seine Mitarbeiter zum Jahresbeginn 1996 geschenkt haben. Erinnerungen werden wach. Er schaut zurück in die Wasserwerkstatt, in der die Lederhäute gereinigt wurden und in deren Modernisierung Seton, sehr zu seinem Leidwesen, nicht mehr investieren wollte, „weil es damals Mode geworden war, einzelne Produktionsstufen an externe Dienstleister zu vergeben und damit auszulagern.“
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Er blättert um und sieht auf dem nächsten Monats-Bild zwei Mitarbeiter, die mit einer Spaltmaschine die Lederhäute von Haaren und Fleischresten befreien. „Die erste deutsche Spaltmaschine Deutschlands stand 1882 in unserer Gerberei“, sagt Lindgens. Nächstes Blatt, nächstes Bild: Was für den Laien wie eine große Waschmaschine aussieht, erklärt Kurt Ludwig Lindgens als Gerberfass, in dem bis zu 100 Häute geschleudert und mit Chemikalien weich gemacht werden konnten. Danach ging es die Klammerei, in der Lederhäute auf einen hydraulischen Rahmen geklammert wurden, um die Lederhaut, deren Verkaufspreis nach Quadratmetern bezahlt wurde, maximal zu weiten und anschließend zum Trocknen in den Klammerofen zu schieben.
„Wir waren einfach flotter und flexibler als die Konkurrenz“
Und ehe die Lederhaut das Werk verlassen konnte, bekam sie von einer Stempelmaschine den Hinweis auf ihre Herkunft verpasst, „damit unsere Kunden bei Reklamationen sofort wussten, an wen sie sich wenden mussten,“ wie Kurt Ludwig Lindgens mit einem Augenzwinkern feststellt. „Wir haben in der Spitze 450 bis 500 Leute beschäftigt. Bei vielen Aufträgen waren wir auch schneller in Stuttgart bei Daimler Benz vor Ort als unser süddeutscher Konkurrent. Deshalb wurden wir von unseren Auftraggebern oft gefragt: Wie macht ihr das nur“, erzählt Kurt-Ludwig Lindgens nicht ganz ohne Stolz: „Wir waren einfach flotter und flexibler als die Konkurrenz und hatten die Zug- und Flugpläne immer gleich zur Hand.“
Vom Internet war damals noch keine Rede. Lindgens kann sich noch an Zeiten erinnern, „in denen man den Breilöffel nur aus dem Fenster halten musste, um gutes Geld zu verdienen und Arbeitsplätze in der Lederindustrie zu sichern“. Warum verdiente man über Jahrzehnte des späten 19. und fast des gesamten 20. Jahrhunderts mit der Lederherstellung so viel Geld, wie man es heute nur noch mit der Herstellung von Computern und Software kann? Kurt-Ludwig Lingens beantwortet die Frage so: „Die Drehmaschinen August Thyssens kamen ohne Lederriemen ebenso wenig aus wie die Autoindustrie und die Eisenbahn ohne Lederpolster. Wir profitierten davon, dass die Lederindustrie über viele Jahrzehnte eine elementare Bedeutung für verschiedene Wirtschaftsbereiche hatte!“
1960 kam die Konkurrenz aus dem Ausland
Doch schon in den 1960er Jahren sah Kurt-Ludwig Lindgens seinen Vater immer öfter mit Sorgenfalten. „Erst kam die Konkurrenz, die den Mülheimer Lederfabriken das Leben schwer machte aus Italien und später aus Asien. „Die Lederindustrie ist zu einem Wanderzirkus geworden“, sagt Lindgens mit dem Blick auf den Wettlauf um die preiswerteste Produktionsstätte.
„Autohersteller, die heute in Asien produzieren lassen, erwarten auch von ihrem Lederlieferanten, dass sie ihre Produktionsstätte gleich nebenan bauen. Hinzu kommt, dass die meisten Autohersteller heute nur noch Kunstleder in ihren Fahrzeugen verarbeiten“, schildert er die Entwicklung. Für ihn steht fest: „Eine Renaissance unserer Leder-Industrie im größeren Umfang wird es nicht geben, solange die traditionellen Kunden ihre lohnintensiven Produktionen in Länder mit billigeren Löhnen verlagern lassen.“