Mülheim. Vor 100 Jahren wurde die erste Waldorfschule gegründet. Kinder sollen dort lernen ohne Leistungsdruck - und dieser Ansatz zieht. Auch in Mülheim.
In diesem September vor genau 100 Jahren wurde die erste Waldorfschule eröffnet. In Mülheim hat es deutlich länger gedauert, bis 1984, aber die Schulgemeinschaft an der Blumendeller Straße nutzt das Jubiläumsjahr gerne, um ihre Lern- und Lebensweise stärker ins Rampenlicht zu rücken.
Seit Wochen wird für das Jubiläums-Festival geprobt
Dass Schüler aller Altersstufen regelmäßig mit kreativen Beiträgen auf die Bühne gehen, gehört elementar zum Konzept der Waldorfschule. Meist gibt es Aufführungen im großen Saal des organisch anmutenden Gebäudes in Heißen. Diesmal, um das Hundertjährige zu würdigen, wird sich die Waldorfschule auf der Freilichtbühne präsentieren. Dort ist für den 27. September ein Open-Air-Festival geplant, bei dem allein 20 Cellisten mitspielen. Seit Wochen wird dafür gewerkelt und geprobt.
Auf der Waldorfschule, so der viel zitierte, unverändert gültige Leitsatz, soll der Nachwuchs „mit Kopf, Herz und Hand“ lernen. In anderer Gewichtung, als es an staatlichen Schulen geschieht. Gabriele Hohlmann, Klassenlehrerin und Vorstandsmitglied der Freien Waldorfschule Mülheim, zugleich Mutter von
vier (ehemaligen) Waldorfschülern, gibt ein anschauliches Beispiel: „Die Kinder werden hier auf die Bühne des Lebens vorbereitet. Für meine Söhne war das bei Vorstellungsgesprächen sehr vorteilhaft.“
Gerade gab es an der Blumendeller Straße wieder einen Info-Abend für Eltern von Vorschulkindern, die auf der Suche sind nach der passenden Schule. Die Mülheimer Waldorfschule erfreut sich nach eigener Aussage reichlicher Nachfrage und führt sogar eine Warteliste mit Interessenten, die zunächst nicht aufgenommen werden können.
Warteliste für Familien, die zunächst keinen Platz bekommen
„Bei uns gilt die sogenannte kleine Zweizügigkeit“, erläutert Thomas C. Wulf, Lehrer für Eurythmie, die Waldorf-Spezialität schlechthin. Für den Schulbetrieb heißt das: Es gibt jeweils zwei Parallelklassen mit maximal 25 Kindern, im äußersten Fall sollen es 26 sein. Derzeit besuchen rund 600 Mädchen und Jungen die Mülheimer Waldorfschule, von den I-Männchen in der ersten Klasse bis zu den Jugendlichen der Stufe 13, die kurz vor dem Abitur stehen. Von der Ära G8 ist diese Schulform unberührt geblieben.
„Viele Eltern sind unzufrieden mit dem, was man von staatlichen Schulen kennt, und auf der Suche nach Alternativen“, so die Erfahrung von Gabriele Hohlmann. Ob dabei auch die Sorge mitschwingt, in der Grundschule nebenan könnten zu viele Migrantenkinder sein, die sich mit der deutschen Sprache schwer tun? „Falls es so ist, sagen die Eltern das nicht offen“, meint Thomas C. Wulf.
Eltern wollen ihren Kindern Leistungsdruck ersparen
Aus seiner Sicht ist es eher etwas anderes, dass die Familien ihren Kinder ersparen möchten: „Das Thema ist eher Leistungsdruck. In der Unter- und Mittelstufe schaffen wir es ganz gut, den herauszuhalten, in der Oberstufe versuchen wir es auch - so weit wie möglich.“ Sitzenbleiben, das Schuljahr wiederholen, muss an der Waldorfschule bekanntlich niemand.
„Hier wird man ganzheitlich als Mensch gesehen“, sagt Oberstufenschülerin Evina Vogt: „Und da man in der Regel 13 Jahre an derselben Schule verbringt, entsteht ein besonderes Verhältnis zwischen Eltern, Lehrern und Schülern.“
Dennoch ist nicht jedes Mädchen, jeder Junge an der Mülheimer Waldorfschule gut aufgehoben. Lehrerin Gabriele Hohlmann stellt klar: „Von außen wird oft gedacht, dass wir auch intensiv eingeschränkte Kinder
Jubiläumsfest auf der Freilichtbühne
Aufhänger des Jubiläumsjahres ist die Gründung der ersten Waldorfschule im September 1919 in Stuttgart. Nach einem neuen pädagogischen Konzept wurden dort unter anderem Kinder unterrichtet, deren Eltern in der Zigarettenfabrik Waldorf Astoria arbeiteten. Die Lehrer waren in einem Kurs bei Rudolf Steiner vorbereitet worden.
Heute gibt es in rund 80 Ländern weltweit mehr als 1100 Schulen, die von der Waldorf-Pädagogik inspiriert sind, und knapp 2000 Waldorfkindergärten. Einer davon liegt auf dem Gelände der Mülheimer Waldorfschule: Hier werden 65 Kinder in drei Gruppen betreut, die Jüngsten sind zwei Jahre alt.
Als Höhepunkt der Jubiläumsfeierlichkeiten „Waldorf 100“ steigt am 19. September ein großes Festival im Berliner Tempodrom.
In Mülheim wird am 27. September von 16 bis 22 Uhr auf der Freilichtbühne an der Dimbeck gefeiert, mit vielfältigen Aufführungen der Schülerinnen und Schüler. Ab 18 Uhr steht die Kantate „Till Eulenspiegel“ mit Chor und Orchester auf dem Programm. Der Eintritt ist frei.
aufnehmen können. Aber dafür haben wir keinen Fachbereich.“ Als Alternative bietet sich hier in manchen Fällen die Freie Waldorfschule in Essen an, wo es einen speziellen Förderzweig gibt für emotionale und soziale Entwicklung.
Etwa die Hälfte der Waldorfschüler in Mülheim macht Abitur
In diesem Sommer haben an der Waldorfschule in Mülheim 23 Jugendliche das Abitur bestanden. Wenn man davon ausgeht, dass jährlich 50 Kinder an der Blumendeller Straße eingeschult werden, entspricht das einer Quote von etwas weniger als 50 Prozent. Damit liegt die Freie Waldorfschule, stadtweit betrachtet, ziemlich genau im Durchschnitt: Knapp die Hälfte der Kinder eines Jahrgangs erreicht in Mülheim die Hochschulreife.
Es gibt noch etwas, das die Mülheimer Waldorfschule mit staatlichen Schulen gemeinsam hat: „Wir brauchen Lehrer, in allen Bereichen“, sagt Britta Dressel-Vogel, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit. In den nächsten fünf Jahren werden sich zehn aus dem Kollegium in den Ruhestand verabschieden. Einige sind seit den Anfangsjahren der Heißener Schule dabei.