Witten. . Eurythmie gilt zu Unrecht als seltsam und altmodisch, findet Melanie Hoessel. Sie möchte die Bewegungskunst an öffentlichen Schulen etablieren.
Eurythmie ist die Verkörperung von Sprache und Musik. Zum Beispiel stellt man einen Gedichtstext mit Bewegungen dar. Was das bringt? „Es ist für Kinder heilsam, gut und gesund“, sagt Autorin Melanie Hoessel. Sie setzt sich dafür ein, dass die Bewegungskunst nicht nur an Waldorf-, sondern auch an städtischen Schulen gelehrt wird. Ein Pilotprojekt läuft an der Gerichtsschule in Witten.
Frau Hoessel, wie haben die Gerichtsschüler darauf reagiert, als Sie mit Eurythmie ankamen?
Hoessel: Erst fanden die Kinder das seltsam. Sie dachten, wir machen ein Musical und dann haben sie gemerkt, das ist doch etwas anders. Sie wollten noch nicht mal Gymnastikschlappen anziehen. Ein paar Termine später war das ganz selbstverständlich.
Warum setzen Sie sich für Eurythmie an Grundschulen ein?
Weil sie mich als Kunstform begeistert. Aber warum sieht man sie kaum öffentlich? Da gibt es immer nur Aufführungen in Ballett oder Hip-Hop. Gleichzeitig arbeite ich mit Kindern mit Fluchterfahrung, wo wir immer eine Sprachbarriere haben. Mit Eurythmie kann man eine Gruppe zusammenführen, da gibt es keine Sprachprobleme. Und ich finde, viele Kinder haben heutzutage Probleme mit ihrer Körperlichkeit.
Wie meinen Sie das? Dass Kinder sich verkrampft bewegen?
Nein, aber Mädchen tanzen heute Musikvideos, nach Bewegungen, die Erwachsene vorführen. Es sind immer Kopien. Keiner macht mehr Bewegungen, die von innen heraus, aus einem selbst kommen. Mir fehlt auch die Selbstwahrnehmung der eigenen Körpersprache.
Wie wurde Ihr Projekt an den Grundschulen aufgenommen?
Ich möchte Eurythmie nachmittags als Kurs im Offenen Ganztag anbieten. Dafür habe ich beim Eurythmie Fonds NRW eine Summe bewilligt bekommen. Aber dann war alles nicht so einfach. In Bochum reagierten die Lehrer skeptisch. Dabei gab es dabei wenig zu erklären: Wir machen ein Tanzstück mit Theater, ohne Sprache. Aber es gab keine Rückmeldungen.
Nur die Gerichtsschule hat „angebissen“?
Ja. Das ist eine sehr engagierte, offene Schule. Und wir haben dort viele Kinder mit Fluchterfahrung, von daher passt das gut. Die Erwachsenen waren begeistert. Letztlich machen elf Kinder mit. Neun Mädchen tanzen und zwei Jungs begleiten sie am Klavier.
Können diese Kinder inzwischen das Alphabet tanzen?
Ja, sie können jedes Vorurteil bedienen! Die Tanzbewegungen zu den Buchstaben sind eine Aufwärmübung. Entscheidend ist, was hinter der Idee mit dem „Namen tanzen“ steckt.
Nach einem halben Jahr gemeinsamer Arbeit: Was spricht für allgemeinen Eurythmieunterricht?
Unsere Erwartungen haben sich an der Gerichtsschule mehr als erfüllt. Die Gruppe ist unheimlich zusammengewachsen. Eurythmie fördert die Sozialkompetenz, den Respekt. Und da herrscht eine Disziplin! Anfangs blieben die Kinder fünf Minuten still. Jetzt schaffen sie es, 30 Minuten konzentriert auf der Bühne zu stehen. Sie sind ganz aufmerksam, hören komplett zu. Eurythmie ist wie Gehirnballett. Und man kann übrigens auch ohne Gewänder tanzen.
>>> INFO: Aufführungen am Mittwoch und Sonntag
Melanie Hoessel (45) arbeitet seit vielen Jahren in der Sprachförderung. Die Autorin und dreifache Mutter betreibt den „Malort“ auf dem Christopherus-Hof.
Seit September 2017 arbeitet sie an der Gerichtsschule gemeinsam mit Eurythmistin Veronika Barth und Musiker Matthias van den Höfel. Die elf teilnehmenden Kinder kommen aus sechs verschiedenen Ländern, es sind Schüler der 3. und 4. Klasse.
Das Märchen „Rotkäppchen“ wird aufgeführt am heutigen Mittwoch (21.2.) um 15 Uhr in der Aula der Gerichtsschule und am Sonntag (25.2.) um 15 Uhr auf der Roxi-Studiobühne in der Wiesenstraße 25. Die tollen Kostüme wurden von Frauen im „Ort der Begegnung“ geschneidert.