Essen. . Der Weg zum Abitur ist in NRW immer noch eine Frage des sozialen Umfelds. Es gibt mehr glatte Einser – aber es fallen auch mehr Schüler durch.
Die nächsten Wochen werden für rund 80.000 Schülerinnen und Schüler in NRW anstrengend. Sie bereiten sich auf die diesjährigen Abitur-Prüfungen vor, die am 30. April mit dem Fach Deutsch beginnen. Es ist die erste große Prüfung, die für den weiteren Lebens- und Bildungsweg entscheidend wird. Allerdings sind die Chancen für junge Menschen, es überhaupt bis zum Abitur zu schaffen, in NRW sehr ungleich verteilt.
Von den knapp 200.000 Schulabgängern eines Schuljahrgangs erreichten nach aktuellen Zahlen des Landesstatistikamts IT.NRW im Jahr 2018 im landesweiten Durchschnitt 39,2 Prozent die Hochschulreife. In einigen Städten liegt die Abiturientenquote deutlich über dem Landesschnitt, in anderen klar darunter. So erreichten zum Beispiel in Münster 51 Prozent aller Schulabgänger das Abitur, in Gelsenkirchen waren es hingegen nur 31,3 Prozent.
Unterschiedliche Abiturquoten im Ruhrgebiet
Auch innerhalb des Ruhrgebiets ist die Spannbreite groß. So liegt Herne mit einer Abiturientenquote von 34,9 Prozent klar unter dem Landesdurchschnitt. Auch Duisburg bleibt mit 36,4 Prozent darunter, ebenso Dortmund (38,7%). Zugleich erzielen Essen (45,4%), Oberhausen (42,7%) oder Recklinghausen (46,9%) deutlich bessere Werte. Spitzenreiter ist erneut die Stadt Mülheim, wo 47,4 Prozent des 2018er-Jahrgangs die Hochschulreife erreichten.
Bildungsexperten sehen eine Ursache für die Unterschiede im sozialen Umfeld der Kinder und dem Bildungshintergrund der Eltern. „Die Schere öffnet sich immer weiter“, sagt Udo Beckmann, Vorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE).
Ähnlich sieht es Dorothea Schäfer, Landesvorsitzende der GEW. „Die Zahlen überraschen mich nicht. Der Bildungserfolg der Kinder ist immer noch eng verknüpft mit dem sozialen Umfeld.“ Schulen und Lehrer könnten das unter den gegebenen Umständen kaum ausgleichen. „Das Gefälle wäre noch größer, wenn es im Ruhrgebiet keine Gesamtschulen gäbe“, betont Schäfer. Dort erreichten viele das Abitur, obwohl sie keine Gymnasialempfehlung erhalten haben.
Krasse Unterschiede bei den Übergangsquoten
Noch augenfälliger wird der Zusammenhang zwischen Wohnort und Bildungserfolg, wenn man die Übergangsquoten zum Gymnasium betrachtet. Der Sozialwissenschaftler Jörg-Peter Schräpler von der Ruhr-Uni Bochum und sein Team haben diese Quoten für einzelne Stadtquartiere im Rahmen einer Studie erhoben. Danach beträgt im Ruhrgebiet die Differenz zwischen bürgerlichen Vierteln und sozial schwachen Gebieten rechnerisch im Durchschnitt rund elf Prozent.
Krasser wird das Gefälle mit Blick auf einzelne Stadtteile: So schaffen es zum Beispiel in manchen Vierteln im Essener Norden weniger als 20 Prozent aufs Gymnasium, während es im begüterten Süden zum Teil über 85 Prozent sind. Ähnliche Unterschiede ergeben sich in Duisburg, Dortmund oder Oberhausen. „Dabei sind ja zunächst einmal alle Schüler so ziemlich gleich schlau“, sagt Schräpler. Er erklärt die Differenzen mit „unterschiedlichen sozialräumlichen Bedingungen“. Also Armut, Arbeitslosigkeit, Hartz-IV-Quote oder Migrantenanteil.
Immer mehr Schüler rasseln durch die Prüfungen
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Die beobachtete soziale Spreizung könne nach Ansicht von Experten auch eine Ursache dafür sein, dass immer mehr Schüler in NRW durch die Abiturprüfungen rasseln, während zugleich die Zahl der Einser-Abis wächst. So ist in den vergangenen Jahren die Quote der nicht bestandenen Prüfungen stetig gestiegen.
Während 2012 noch 1,9 Prozent das Abi nicht schafften, waren es 2014 bereits 2,8 Prozent. 2017 und 2018 rasselten schon jeweils 3,5 Prozent der Schüler durch die Abiprüfung. Zugleich wird immer häufiger die Note 1,0 vergeben. Schafften 2014 noch 1,4 Prozent aller Schüler diese Traumnote, waren es 2018 bereits 1,8 Prozent.
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Auch in diesem Schuljahr dürfte sich der Trend fortsetzen, meinen Bildungsexperten. Das verdeutliche die Abhängigkeit des Bildungserfolgs vom Elternhaus der Kinder, sagt VBE-Vorsitzender Udo Beckmann. Bei der einen Gruppe könnten die Eltern die notwendige Unterstützung und Förderung privat organisieren, die anderen fielen „durch das Rost“, so Beckmann. Nach Ansicht des Bildungswissenschaftlers Prof. Helmut Bremer von der Uni Duisburg-Essen sind womöglich Schulen und Lehrer nicht genügend darauf vorbereitet, mit einem breiteren sozialen Spektrum der Schüler pädagogisch umzugehen.
Philologenverband fordert strengere Benotung
Ähnlich argumentiert die Bildungsgewerkschaft GEW. „Auch am Gymnasium werden die Lerngruppen heterogener“, sagt Ilka Hoffmann, bei der GEW im Vorstand für das Thema Schule verantwortlich. „Deshalb driften die Abiturnoten immer stärker auseinander.“ Darauf müssten die Schulen reagieren.
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Der Philologenverband sieht eine Ursache auch in dem wachsenden Zulauf aufs Gymnasium. Dadurch könne sich der Anteil derjenigen erhöhen, die das Abitur nicht schaffen. Zugleich werde den Schülern in der Unter- und Mittelstufe nicht mehr kontinuierliche Leistungsbereitschaft abverlangt. Manche würden nur versetzt, weil sie schlechte Leistungen in einem Fach durch gute in einem anderen ausbügeln könnten, meint die Erziehungswissenschaftlerin und Verbandsvorsitzende Susanne Lin-Klitzing. „Nur am Schluss, im Abitur, müssen Mathe, Deutsch und eine Fremdsprache bestanden werden. Da hilft kein Ausgleich mehr.“ (mit dpa)
>>> Die Abiturnoten
Insgesamt sind die Abinoten in den vergangenen Jahren leicht besser geworden. Den besten Notendurchschnitt gab es 2017 in Thüringen mit 2,18, den schlechtesten in Niedersachsen mit 2,57. In NRW lag er bei 2,45 – und war damit fast genauso hoch wie 2013 (2,45).