Mülheim. Frank Goosen, Fritz Eckenga, Hennes Bender und andere diskutieren in Mülheim über das „Literaturgebiet.Ruhr“. Gibt es eine gemeinsame Identität?
„Bist du eine Ruhrgebiets-Schriftstellerin?“ – Die Schau „Wir sind Literaturgebiet.Ruhr“ im Ringlokschuppen übersteht nicht einmal die Pause, bis die befragte Autorin Karosh Taha mit entwaffnender Irritation den Kern des Literaturabends mit Prominenz der hiesigen Szene wie Frank Goosen, Fritz Eckenga und Hennes Bender in Frage stellt: „Ich weiß nicht, was das ist ...“
Das überraschte Schweigen der Moderation spricht Bände, und ist an diesem Freitagabend dennoch – endlich – ein erfrischender Bruch mit dem, was bis dahin als bemühtes Identitäts-Klischee auf der Bühne inszeniert worden ist: das ausgestellte Pöttlern mit Grönemeyer Zungenschlag, die angedeutete Trinkhalle – von der Moderation als „Kneipe“ fehlgedeutet – mit Einmachgläsern, selbstredend viel Bierverkostung und die unweigerliche Referenz auf Revierfußball und „die Kumpel“. Ein Bild aus dem Setzkasten des vergangenen Jahrhunderts.
Netzwerk Literaturgebiet.Ruhr: Verschiedene Autoren unter einer Flagge bündeln
Netzwerk wird vom Land NRW und RVR gefördert
Das Netzwerk Literaturgebiet.Ruhr wird vom Träger Literaturbüro Ruhr in Gladbeck gemanagt. Die Planung hat ein Gremium aus Leitern verschiedener Kulturzentren sowie -betrieben. Gefördert wird es vom Land NRW und dem RVR.
Am Freitag, 11. Oktober, geht das Literaturgebiet.Ruhr weiter im Ringlokschuppen mit dem „Best-of-Poetry-Slam“, Beginn: 20 Uhr.
Das volle Programm „Herbstschau“ gibt es im Internet auf www.literaturgebiet.ruhr.
Das Netzwerk Literaturgebiet.Ruhr hat sich gebildet, um die verschiedenen Autoren unter einer Flagge „zu bündeln und koordinieren“. Weniger hätte der Auftaktveranstaltung für das üppige wie vielfältige Programm jedoch besser getan: Das Bemühen um Gemeinsamkeit der Autoren aber lässt den guten Gedanken als Marketingidee erscheinen und wird auch der Individualität der Künstler nicht gerecht.
Das beginnt bereits bei dem Inbegriff des Ruhrgebietsautoren Frank Goosen. Na klar: Kaum jemand versteht es wie er, die Topologie und Atmosphäre des – vergangenen – „Ruhrpotts“, der Städte, Wohnungen und der verwilderten Hinterhöfe in einer Melancholie und Genauigkeit zu zeichnen, als stünde man mitten drin.
Fritz Eckenga scheint sich mit seiner Rolle als „Pott-Poet“ nicht wohlzufühlen
Zum Abfeiern eignet sich aber auch seine Geschichte vom Besuch des Taubenschlags von „Spülis Opa“ nicht, die Wohlfühl-Nostalgie zerschlägt Goosen mit einer schockierenden Szene: Spülis Opa reißt seiner geliebten Taube Sieglinde den Kopf ab, denn „dat wird nix mehr“ und kommentiert den zuckenden Leib: „Siehse – so is dat Leben.“
Auch Fritz Eckenga, der eiligst als „Pott-Poet“ eingeführt wird und mit frechen Reimen über möglichst viele aber doch austauschbare Ruhrgebietsstädte frotzelt, scheint sich in der zugedachten Rolle unwohl zu fühlen. „Was erhoffst du dir von diesem Abend?“ wird er gleich von der Moderation zum werbenden Stichwortgeber für das „Literaturgebiet.Ruhr“ abberufen. Eckenga wehrt sich gegen die zugedachte Rolle: „Da muss ich erst einmal nachdenken.“
Abend im Ringlokschuppen verharrt im Vergangenen
An vielen Stellen verharrt der Abend im Ringlokschuppen im Vergangenen und lässt eine Suchbewegung nur selten entstehen: Was hält dieses Gebinde „Ruhrgebiets-Literatur“ eigentlich heute – im Jahre 2019 – zusammen? Zum Glück nicht nur das Klischee. Karosh Taha ist dafür an diesem Abend ein gutes Beispiel: Die junge Kurdin schildert in Präzision das bedrückende Panoptikum einer Hochhaussiedlung, vor der nicht nur das Straßengeschehen zur Bühne wird. Es wird auch zur Instanz, die das eigene Verhalten in vorauseilender Selbstkontrolle ständig überwachen lässt.
Tahas Debüt „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ könnte aber überall spielen, nicht nur in Duisburg, an das sich Moderator Thomas Koch spontan erinnert fühlt. Und das gilt nicht weniger für Miedya Mahmod, die in Dortmund geboren ist, in Hagen gelebt hat, mit ihrem Wortgewitter über Identität, Migration, Heimat atemlos über die Bühne fegt, und dabei nur eine ihrer Wurzeln mit Gewissheit offenlegt: den Poetry-Slam.
Literaturgebiet.Ruhr: Individualität der Autoren
Was zeichnet also das „Literaturgebiet.Ruhr“ aus? Sicher die Individualität der Autoren, die hier leben und den Wandel aufnehmen, den die Region durchläuft. Man muss ihnen nur den Raum geben, damit das Neue erkennbar wird. Wer das Literaturgebiet erforschen will, hat bis Ende November auf vielen Veranstaltung von Duisburg bis Dortmund die Chance.