Mülheim. . In zwölf Fällen soll ein Hilfspfleger Senioren Insulin gespritzt haben. Darunter ist auch ein Fall aus Mülheim, bei dem es Ermittlungsfehler gab.

Die Angehörigen eines unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommenen 91-Jährigen aus Mülheim können noch auf Aufklärung hoffen. Der Fall aus der Ruhrstadt ist Teil eines Mammut-Verfahrens, das die Staatsanwaltschaft München gegen Gregorz Stanislaw W. führt. „Wir haben eigentlich alles zusammen“, bilanziert Oberstaatsanwältin Anne Leiding. Der bundesweit von diversen Agenturen vermittelte polnische Hilfspfleger soll sechs Menschen ermordet haben, indem er ihnen Insulin verabreichte, ohne dass es medizinisch erforderlich gewesen wäre.

Den Mülheimer Fall werten die Ermittler als versuchten Mord, zwei weitere solcher Taten werden W. ebenfalls zur Last gelegt, hinzu kommen drei Fälle von gefährlicher Körperverletzung. Die seien auf eine Art auch Mordversuche gewesen, sagt Leiding. Allerdings habe der Hilfspfleger dabei noch selbst den Notarzt gerufen.

In Mülheim war das nicht der Fall: Der 91-Jährige kam nach einem kurzen Aufenthalt des Hilfspflegers im Mai 2017 ins Krankenhaus, nachdem Angehörige ihn entdeckt hatten. Dort konnte der Senior zwar zunächst gerettet werden, Wochen später aber starb er doch, wurde schließlich eingeäschert. Eine Tochter zeigte den Pfleger an, doch war der längst über alle Berge.

Hätten weitere Taten verhindert werden können?

Der Fall hatte in Mülheim und Essen hohe Wellen geschlagen, weil sich die verantwortlichen fünf Polizisten möglicherweise zu wenig Mühe bei der Aufarbeitung eines potentiellen Verbrechens gegeben haben. Weder stellten sie Zusammenhänge zu vergleichbaren Fällen her noch versuchten sie herauszufinden, wo W. sich aufhielt. Hinzu kamen wohl weitere Versäumnisse. Die Staatsanwaltschaft Duisburg stellte das Verfahren schließlich vorläufig ein. Die Frage bleibt offen: Hätte W. gestoppt und weitere Taten verhindert werden können?

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Knapp zwei Jahre danach sind die Angehörigen über das zunächst vorläufige Ende der Ermittlungen in ihrem Fall noch immer entsetzt. „Ich kriege das nicht in meinen Kopf“, sagte der Sohn des Opfers einer Reporterin des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“, die die Familie besucht hat, „ich weine vor Wut.“

Keine strafrechtlichen Verstöße festgestellt

Der Essener Polizeipräsident Frank Richter hatte im vergangenen Jahr die Arbeit seiner Ermittler öffentlich in dem Fall scharf kritisiert, in einem öffentlich gewordenen Brandbrief seinem Ärger Luft gemacht und Konsequenzen angedroht. Inzwischen ist klar: Die tatsächlichen Folgen sind eher überschaubar. Dass gegen die Polizisten kein Anfangsverdacht etwa wegen Strafvereitelung im Amt besteht, hatte die nun mit dem weiteren Verfahren betraute Krefelder Staatsanwaltschaft schnell herausgefunden. Ermittlungen wurden daher nicht aufgenommen.

Die Polizisten, denen nach Bekanntwerden der Vorwürfe kurzfristig die Führung ihrer Dienstgeschäfte verboten worden war, mussten Ende des vergangenen Jahres zu sogenannten „Kritikgesprächen“ bei der Behördenleitung antreten, erklärt Polizeisprecher Ulrich Faßbender. Dabei sei der Fall aufgearbeitet worden. Dies sei eine „milde“ personelle Maßnahme.

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Einer der beteiligten Beamten ist inzwischen planmäßig in den Ruhestand gegangen, drei sind in andere Kommissariate „umgesetzt“ worden, einer sei „voll rehabilitiert“. „Da ist etwas schief gelaufen“, sagt Faßbender zwar heute noch. Strafrechtlich und auch disziplinarrechtlich hätten sich aber keine Anzeichen für Verstöße ergeben.

Verdächtiger flog in Ottobrunn in Bayern auf

Die interne Ursachenforschung im Präsidium wie von Richter in Aussicht gestellt läuft dennoch weiter. Untersucht werde laut Faßbender unter anderem, wie sich Abläufe und Absprachen auch unter Einbeziehung der Kommissariatsleiter und der Staatsanwaltschaft anders organisieren lassen: „Wir gucken, ob, wo und wie wir besser werden können.“ Für konkrete Aussagen sei es aber noch zu früh.

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Die ebenfalls bei der Staatsanwaltschaft Krefeld laufende Überprüfung, ob gegen die damals zuständige Duisburger Staatsanwältin ein Anfangsverdacht wegen Rechtsbeugung oder Strafvereitelung besteht, dauert auch noch an. Die erfahrene Juristin ist mittlerweile nicht mehr in der Abteilung für Kapital-Delikte, sondern kümmert sich nun um Betäubungsmittel-Fälle. Der Wechsel sei aber unabhängig von dem Mülheimer Fall und „aus freien Stücken“ erfolgt, sagt ein Sprecher der Duisburger Staatsanwaltschaft.

W. flog erst im Frühjahr 2018 auf, weil er in Ottobrunn in Bayern einen Senior getötet haben soll. Schnell stießen die Ermittler auf weitere Fälle in mehreren Bundesländern. In München sagt Oberstaatsanwältin Leiding nun: „Die Ermittlungen werden in einigen Wochen abgeschlossen sein. Dann werden wir anklagen.“

Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass W. unter anderem aus Habgier gehandelt habe, weil er es nach der Verabreichung des Insulins auf die Wertsachen der Senioren abgesehen hatte. Der Hilfspfleger hat die Abgabe des Hormons in zwölf Fällen, darunter auch in dem Mülheimer, gestanden, aber eine Tötungsabsicht bestritten. In seinem Heimatland hat er wegen Vermögensdelikten schon im Gefängnis gesessen. Der Prozess gegen ihn wird auch an der Ruhr mit großer Spannung verfolgt werden.