Herne. Vor wenigen Wochen schlug Verdi Alarm: Der Betriebsrat im Herner Lidl-Lager werde drangsaliert. Doch viele Mitarbeiter haben eine andere Meinung.

Klagen und Kündigungen, Beschwerden und Abmahnungen: Es klang dramatisch, was Verdi Anfang März öffentlich machte: Der Betriebsrat im Lidl-Zentrallager an der Südstraße in Herne-Süd werde seit einiger Zeit schwer unter Druck gesetzt, die Vermutung: Die Vertretung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer solle mürbe gemacht werden, um einen Betriebsrat zu installieren, der dem Unternehmen genehm ist.

Doch nur kurze Zeit nach der Berichterstattung in der Herner WAZ meldeten sich mehrere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Lager in der Redaktion. Ihre Botschaft: Die Verdi-Schilderung stimme so nicht, die Situation im Lager sei in der Realität eine ganz andere. Ein Blick auf beide Seiten zeigt, dass es in der Belegschaft und im Betriebsrat einen tiefen Riss zu geben scheint und sich zwei Seiten mehr oder weniger unversöhnlich gegenüberstehen. Der Versuch einer Bestandsaufnahme.

Belegschaftsmitglieder wehren sich mit Unterschriftenliste gegen Verdi-Behauptungen

Dass es zwei Fraktionen gibt, ist offensichtlich, denn beim Gespräch von etwa zwei Dutzend Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern waren auch aktuelle und ehemalige Betriebsratsmitglieder dabei. Das überrascht zunächst, denn der Betriebsratsvorsitzende ist seit 2010 immer wieder in seinem Amt bestätigt worden. Doch nun habe er die Mehrheit der Belegschaft gegen sich, sagen die Wortführer beim Treffen mit der WAZ. Sie haben der Redaktion eine Liste mit fast 150 Unterschriften übergeben, die sich gegen die Behauptungen von Verdi wehren - und gegen eine Online-Petition, die Verdi gestartet hat. Die Lidl-Mitarbeiter sagen im Gespräch mit der WAZ, dass sie mehr als 80 Prozent der Belegschaft hinter sich wissen.

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Wurde Druck auf sie ausgeübt, um zu unterschreiben? Manipuliert der Betriebsleiter die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und wiegelt sie gegen den Betriebsratsvorsitzenden und seinen Stellvertreter auf? Jene, die am Gespräch mit WAZ teilgenommen haben, verneinen das entschieden. „Es gab keinen Druck bei der Unterschriftensammlung“, hieß es. „Wir sind alle erwachsene Menschen und entscheiden selbst, was wir machen.“ Die Vermutung, dass der Betriebsrat aufgelöst werden oder durch einen ersetzt werden soll, der dem Arbeitgeber genehm ist, weisen die Mitarbeitenden zurück: „Wir wollen und wir brauchen einen Betriebsrat.“ Es habe nie zur Debatte gestanden, dass der Betriebsrat aufgelöst wird.

Betriebsratsvorsitzender bestätigt, dass es einen Riss gibt

Der Betriebsratsvorsitzende zeigt sich auf Anfrage „sicher“, dass Druck bei der Unterschriftensammlung ausgeübt worden sei. Er habe vorgeschlagen, dass man die Unterschriftensammlung mithilfe eines Aushangs durchführt. Doch darauf habe sich die andere Seite - die er Arbeitgeberseite nennt - nicht eingelassen. Er bestätigt, dass es in der Belegschaft und im Betriebsrat einen Riss gibt.

Doch warum sind die Fronten so verhärtet und warum ist die Atmosphäre im Lager offenbar von einem tiefen gegenseitigen Misstrauen vergiftet? Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter behaupten, dass der Betriebsratsvorsitzende und sein Stellvertreter nicht in ihrem Sinne agiert, er lege ihnen zum Beispiel beim Thema „freiwillige Überstunden“ Steine in den Weg. Stimmt nicht, entgegnet der Betriebsratsvorsitzende. Es gehe viel mehr um angeordnete Überstunden, bei denen die Mitbestimmungsrechte nicht gewahrt würden.

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Ein anderer Vorwurf der Mitarbeiter: Es gebe keine Gleichbehandlung, was übersetzt heißen soll: Jene, die auf der Seite des Betriebsratsvorsitzenden stünden, erhielten schon seit Jahren Vorteile, zum Beispiel beim Thema Arbeitsverträge. Auch das weist der Betriebsratsvorsitzende zurück. Erstens könne jeder mit dem Arbeitgeber seine Lohn selbst verhandeln. Und in jenen Lohnverhandlungen, in die der Betriebsrat involviert gewesen sei, habe es für Erhöhungen einen triftigen Grund gegeben.

Dass der BR-Vorsitzende nach wie vor das Sagen habe, liegt nach den Worten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter daran, dass er im Betriebsrat über eine 4:3 Mehrheit verfüge. So würden Beschwerden, die ihm nicht in den Kram passen, abgeschmettert. Auch hier Widerspruch vom BR-Vorsitzenden. Es habe im Betriebsrat keine einzige Entscheidung gegen die Interessen der Mitarbeitenden gegeben. Das lasse sich anhand der Protokolle nachweisen.

Sammelklage, um Betriebsratsvorsitzenden und Stellvertreter auszuschließen

Die Gruppe, die am Gespräch mit der WAZ teilgenommen hat, hat eine klare Forderung: „Wir als Mitarbeiter wollen den Betriebsrat neu wählen.“ Sie seien jedenfalls stolz auf ihren Arbeitsplatz, sonst wären einige nicht schon seit mehr als 20 Jahren im Herner Lidl-Lager. Doch die Belegschaft ist inzwischen noch einen Schritt weiter gegangen. Mehr als 100 Mitarbeitende haben beim Arbeitsgericht eine Sammelklage eingereicht. Das Ziel: Ausschluss des Betriebsratsvorsitzenden und seines Vertreters aus dem Betriebsrat. Bei diesem Streitpunkt weist der BR-Vorsitzende darauf hin, dass sich bei den Unterzeichnern auch Beschäftigte befänden, die erst wenige Tage zuvor ihren Job im Lidl-Lager begonnen hätten.

Eine Verhandlung am Herner Arbeitsgericht in diesem Streitfall steht noch aus - und es ist zurzeit nicht absehbar, wie der tiefe Riss gekittet werden könnte.