Herne. Das erste Mal wählen: Herner Schulen haben zur Europawahl Parteien auf den Zahn gefühlt. Warum das Los über Plätze auf dem Podium entschied.
Am 9. Juni ist Europawahl – und zum ersten Mal dürfen in NRW auch 16- und 17-Jährige ihre Stimme fürs EU-Parlament abgeben. Für das Gymnasium Eickel und das Pestalozzi-Gymnasium Grund genug, kurz vor den Osterferien Podiumsdiskussionen mit Vertreterinnen und Vertretern kandidierender Parteien insbesondere für die Oberstufen durchzuführen. Die WAZ Herne hat an den beiden von jeweils rund 200 Schülerinnen und Schülern besuchten Veranstaltungen teilgenommen.
Losverfahren hier, Bundestagsparteien dort
Wie viele und vor allem welche Parteien lädt man zu einer Podiumsdiskussion ein, ohne den vorgegebenen eineinhalbstündigen Rahmen zu sprengen? Die Gymnasien sind zu sehr unterschiedlichen Antworten gekommen. Das Pestalozzi hat nur die im Bundestag vertretenen Parteien um Teilnahme eines Vertreters/einer Vertreterin gebeten, mit Ausnahme der CSU und der noch nicht über feste Strukturen verfügende Linken-Abspaltung Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Heißt: Auch die bereits in mehreren Bundesländern als gesichert rechtsextrem eingestufte AfD hatte eine Einladung erhalten. Nicht erschienen im Veranstaltungsort Turnhalle ist (ohne Begründung oder Absage) die CDU.
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Die Schülervertretung des Gymnasiums Eickel wählte einen ungewöhnlichen Ansatz. 7 aus 14 lautete das Motto: Das Los hatte darüber entschieden, welche sieben der derzeit im Europaparlament sitzenden deutschen Parteien sich in der Aula präsentieren durften. Und so kam es zu einer deutlichen linken Schlagseite, weil sowohl CDU und FDP als auch AfD im Vorfeld bei der Auslosung den Kürzeren gezogen hatten. Das verstärkte sich noch durch die kurzfristige Absage eines Vertreters der konservativen Familienpartei (Stau auf der Autobahn), sodass schließlich SPD, Grüne, Linkspartei, ÖDP, Volt und Piratenpartei dabei waren.
Zustimmung zur Herabsenkung des Wahlalters
„Wählen ab 16? Super!“ Nicht nur FDP-Europakandidat André Buttler freute sich auf dem Pestalozzi-Podium über die Herabsenkung des Wahlalters. Die Jugend habe sich in den vergangenen Jahren stark politisiert. Es sei deshalb richtig, auch Minderjährige an der politischen Willensbildung mitwirken zu lassen, so der Recklinghäuser. Bei Kommunalwahlen sei Wählen mit 16 schon vor Jahren eingeführt worden, ohne dass es zu „einem Zusammenbruch der Demokratie“ gekommen wäre, sagte Hernes SPD-Chef Hendrik Bollmann. Und Hernes Linken-Vorsitzender Patrick Gawliczek forderte eine Erweiterung des Wahlrechts auf alle in Deutschland lebenden Menschen, also auch auf Nicht-EU-Ausländer.
AfD-Mann Neuhoff - Professor für Soziologie und Psychologie an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln - beantwortete die Frage ausweichend, sprich: weder mit Ja noch Nein. Das rief Justus Lichau auf den Plan: Der Grünen-Stadtverordnete wies darauf hin, dass die Herabsenkung des Wahlalters im Bundestag von der AfD abgelehnt worden sei.
Weitere Themen: Klimaschutz, Digitalisierung, Krieg
Klimawandel („Green Deal“), Zukunft der EU, Wirtschaft, Bildung und Digitalisierung lauteten in beiden Diskussionsrunden weitere von den moderierenden Schülern vorgegebenen Themen. Am Gymnasium Eickel verlief die Debatte schon allein durch das Fehlen konservativer Kräfte und der rechtsextremen AfD weniger kontrovers. Uneingeschränkten Konsens gab es bei dieser Botschaft: „Geht wählen! Egal, wen. Hauptsache, ihr wählt demokratisch.“ Ein echter Dissens wurde nur nach einem Redebeitrag des Herners Jürgen Klute (Linkspartei) deutlich. Der frühere Europaabgeordnete (2009 bis 2014) wagte die These, dass Putin mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine vor allem einen Krieg gegen die europäische Energiewende führe. Das wollte die Herner Grünen-Ratsfrau Anna Schwabe nicht stehen lassen und entgegnete: „Putin hat es ja selber gesagt: Es geht darum, die Ukraine als Land nicht weiter anzuerkennen. Sie verherrlichen das, wenn Sie sagen, es geht größtenteils um Energie.“
Gegenwind für die AfD
Es kam, wie es kommen musste: Die AfD und ihre Forderungen rückten im Laufe der Pestalozzi-Diskussion mehr und mehr in den Fokus. Neuhoff - mit Platz 8 auf der AfD-Europaliste gilt sein Einzug ins EU-Parlament als sicher - übte gemessen an rechtsextremistischen AfD-Hardlinern wie Björn Höcke oder Europaspitzenkandidat Maximilian Krah verbal zwar eine gewisse Zurückhaltung und antwortete zum Teil ausweichend - beispielsweise beim Klimawandel. Trotzdem „schaffte“ der Bonner es immer wieder, mit rechten Thesen und Haltungen Widerspruch und Kritik bei Mitdiskutanten zu wecken. Und für seine Zwischenrufe sowie zum Teil an Beleidigungen grenzende Attacken auf die Grünen fing er sich einen Tadel von Moderator Jurij Brodsky ein.
Der Sozialdemokrat Bollmann warnte Schülerinnen und Schüler vor den Gefahren, die von der AfD ausgingen: „Demokratie hat eine Basis. Es gibt eine Realität, über die wir alle streiten, mit der wir umzugehen haben.“ Was die AfD betreibe, sei hochgefährlich. Sie wolle die gemeinsame Basis des Zusammenlebens kippen und umkehren. Auch Patrick Gawliczek (Linke) ging Neuhoff und die AfD frontal an: „Es ist eine Schande, dass sie Hass gegen Menschen verbreiten. Dagegen müssen sich alle Demokratinnen und Demokraten wehren.“
Die Beiträge von Schülerinnen und Schüler
Nach den Themenblöcken auf dem Podium hatten Schülerinnen und Schüler bei beiden Diskussionsrunden die Gelegenheit, Fragen zu stellen. In Eickel wollte beispielsweise ein Gymnasiast von der Linken wissen, warum sie die vor allem in der Türkei aktive kurdische Untergrundorganisation PKK in Europa von der Terrorliste nehmen wolle, obwohl diese tödliche Anschläge verübt habe. Ein anderer Schüler fragte, ob die Parteivertreter aufgrund der starken Einwanderung nicht ebenfalls die Sorge hätten, dass Europa und Deutschland „ihre Identität“ verlören (hatten sie nicht).
Am Pestalozzi-Gymnasium stand die AfD auch in den Beiträgen von Schülerinnen und Schülern im Mittelpunkt. Es sei einfach nur peinlich, dass die AfD sich respektlos gegenüber Minderheiten verhalte und Menschen „hasse“, nur weil sie „anders“ geboren seien, so das Statement eines Schülers. Neuhoff stritt dies ab und betonte, dass Parteichefin Alice Weidel ja offen in einer homosexuellen Beziehung lebe. Eine andere Schülerin verwies auf eine homophobe Aussage des früheren AfD-Landtagsabgeordneten Andreas Gehlmann. Dieser habe einst im Landtag von Sachsen-Anhalt mit Gefängnisstrafen für Homosexualität gedroht. Er kenne diesen Fall nicht, sagte Neuhoff. Wenn in der NRW-AfD, deren Vorstand er angehöre, eine derart inakzeptable Aussage fallen würde, hätte dies sofort ein Parteiausschlussverfahren zur Folge.
Gehlmann ist derzeit übrigens Vorsitzender der AfD-Fraktion im Kreistag Mansfeld-Südharz und tritt im April in Sangerhausen für seine Partei als OB-Kandidat an.
Der Appell
Moderator und Q1-Schüler Jurij Brodsky richtet zum Schluss der Pestalozzi-Diskussion einen Appell an seine Mitschülerinnen und Mitschüler: „Im Juni habt ihr bei der Europawahl zum ersten Mal in der Geschichte dieser Republik die Chance, eure Stimme abzugeben. Und bitte beachtet eine Sache: Ihr seid nicht nur Teil einer Statistik, die um 18 Uhr veröffentlicht wird. Ihr seid Teil einer Demokratie. Und Demokratie muss gepflegt werden.“
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Die Verlängerung
Davon können Lehrerinnen und Lehrer im Unterricht nur träumen: Knapp 100 Schülerinnen und Schüler des Pestalozzi-Gymnasiums blieben nach dem offiziellen Ende der von Lehrer Jan Gösling mitorganisierten Veranstaltung freiwillig sitzen, um knapp 30 Minuten lang weitere Fragen an die fünf Politiker zu stellen. Und am Gymnasium Eickel bestand nach der Diskussion noch die Gelegenheit zum persönlichen Austausch, die von einigen auch genutzt wurde.
Info: Wahlrecht ab 16
- Für die Europawahl am 9. Juni ist in Deutschland das Mindestwahlalter von 18 auf 16 Jahre herabgesetzt worden. Der Bundestag hat dies im November 2022 auf Initiative der Ampelregierung beschlossen. Gegenstimmen gab es von CDU/CSU und AfD.
- Bei Kommunalwahlen gilt in NRW bereits ab 1999 ein aktives Wahlrecht ab 16 Jahren. Bei Landtags- und Bundestagswahlen gilt weiterhin das Wahlrecht ab 18.
- Für die Landesebene ist eine von SPD und Grünen befürwortete Absenkung des Wahlalters zuletzt im Jahr 2020 mehrheitlich vom Landtag in Düsseldorf abgelehnt worden. Das Wahlalter ab 16 gilt dagegen bei Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein.
- Anders als bei den Kommunal-, Landtags- und Bundestagswahlen ist die Europawahl eine reine Listenwahl. Heißt: Kandidierende können nicht direkt gewählt werden, sondern ausschließlich über zuvor von den Parteien aufgestellte Listen. Zurzeit gehören 96 Deutsche dem 705 Abgeordnete zählenden EU-Parlament an.
- Aus Herne gibt es am 9. Juni nur zwei Kandidaturen: Nicole Schmidt und Michelle Müntefering stehen auf der Liste der SPD. Schmidt, in Herne wohnende stellvertretende Vorsitzende der SPD Gelsenkirchen, hat den aussichtslosen Listenplatz 41. Und die Bundestagsabgeordnete Michelle Müntefering ist „Huckepackkandidatin“ für die deutsche SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley. Heißt: Sie zieht nur für den Fall ins Europäische Parlament ein, wenn Barley im Laufe der fünfjährigen Wahlperiode (2024 bis 2029) ausscheidet.