Herne. Es gibt in Herne den einen oder anderen Global Player. Mit einer Neuansiedlung könnte ein weiterer hinzukommen. Überraschend: Es ist ein Pedelec.
Das Umfeld ist unscheinbar: der Wanner Güterbahnhof ist in Sichtweite, hinzu kommen ein paar mehr oder weniger große Handwerksbetriebe in den ehemaligen Heitkamp-Hallen in Wanne-Süd. Doch in dieser Hinterhof-Szenerie wird seit einigen Tagen ein Produkt gefertigt, dass das Zeug zum Global Player hat: das Lastenfahrrad Antric.
Dieses Ziel und diese Aussichten hatte Gründer Eric Diederich zu Beginn im Jahr 2015 nicht vor Augen. Als Teil eines Projekts an der Hochschule Bochum elektrifizierte der diplomierte Mechatroniker mit seinem Team Lastenräder. Die kamen zwar nicht über das Stadium von Prototypen hinaus, doch Diederich und seine Partner lernten sehr viel und erkannten, dass es einen Markt für Lastenräder gibt, die ausschließlich im gewerblichen Bereich unterwegs sind. Sie entwickelten die erste Version der elektrischen Ameise (das ist die Bedeutung hinter dem Kunstwort Antric). 2020 wurde die GmbH gegründet, in Bochum-Gerthe entstand eine kleine Fertigung.
Cenntro-Chef war zunächst skeptisch
Dass die Produktion nun nach Herne umgezogen ist, hat folgenden Grund: Das US-Unternehmen Cenntro, das in Wanne-Süd Elektro-Lieferwagen baut, hat sich im Jahr 2022 zunächst an Antric beteiligt und das Start-up mittlerweile komplett übernommen. Danach sah es zunächst gar nicht aus, erzählt Cenntro-Geschäftsführer Gregory Hancke beim Ortstermin mit der Herner WAZ-Redaktion. Als Professor Friedbert Pautzke von der Hochschule Bochum ihn auf Antric aufmerksam gemacht habe, habe er beim Wort „Lastenrad“ unwillkürlich an jene Modelle gedacht, mit den Großstadtfamilien in ihre Kinder zur Kita bringen oder ihren Wocheneinkauf transportieren. Den Besichtigungstermin habe er eigentlich nur aus Höflichkeit wahrgenommen. Doch als er Antric gesehen habe, sei er total überrascht gewesen, so Hancke. Das sei etwas völlig anderes als die herkömmlichen Lastenräder gewesen. Ihm sei schnell klar gewesen, dass dieses Lastenrad die „perfekte Ergänzung“ zu den Cenntro-Fahrzeugen ist.
Der Grund: In diesem Pedelec - das deshalb auch ohne Führerschein gefahren werden darf - steckt sehr viel Autotechnik. Das fängt schon damit an, dass der Fahrer nicht auf einem Sattel sitzt, der auf die Dauer schmerzt, sondern in einem bequemen Sitz. Hinzu kommen Scheibenwischer für die Frontscheibe, eine Rückfahrkamera, ein Fahrer-Informationsdisplay, ein vollgefedertes Chassis, zwei LED-Frontscheinwerfer, Bremslicht und Blinker. Nicht zuletzt rollt Antric auf vier Reifen, auch das ist nicht die Regel bei Lastenrädern. Zwei Akkus unterstützen den Fahrer beim Treten der Pedale.
Hotelbetreiber aus Mexiko gehören zu den ersten Kunden
Konzipiert ist Antric - inzwischen gibt es ein weiter entwickeltes Modell - ausschließlich für den gewerblichen Einsatz, zum Beispiel in der Logistik. Die Ladefläche liegt deshalb sehr tief unterhalb der Räder. Und auch wenn das Rad sehr schlank und kompakt designt ist: Es passt eine Europalette hinein. 390 Kilogramm - inklusive Fahrerin oder Fahrer - dürfen transportiert werden. 70 dieser Bikes sind verkauft und im Einsatz, unter anderem bei den Paketdienstleistern Hermes oder GLS. Verschiedene Postgesellschaften hätten bereits Interesse signalisiert: aus Österreich, den Niederlanden oder Belgien. Und in gewisser Weise ist Antric bereits ein Global Player. Zu den ersten Kunden gehören Hotelbetreiber aus Mexiko.
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Hancke sieht ein großes Potenzial für das Rad, „viele Märkte sind noch gar nicht erschlossen“. Ob Universitäten, Flughäfen oder Bahnhöfe: Überall dort, wo Lasten transportiert werden müssen, sich aber der Einsatz eines Autos nicht lohne oder nicht erlaubt sei, könne Antric fahren. Und wenn immer mehr Städte Autos verbannen... Dass die „Ameise“ mit einem Preis von etwas mehr als 20.000 Euro kein Schnäppchen ist, ist für Hancke kein Wachstumshemmnis. Die Anschaffungskosten mögen höher sein als bei Mitbewerbern, doch Antric sei mit seiner Automobiltechnik robuster und verschleißärmer. Hancke: „Unsere Erfahrung ist: Wer Antric testet, kauft auch.“
Wie viele Kunden in Zukunft kaufen werden? Zunächst sollen in der neuen Produktionsstätte in Herne die Fertigungsabläufe optimiert werden, ausgehend von den 70 bislang verkauften Exemplaren laute das Ziel, mehrere 100 Prozent mehr zu verkaufen. Die Produktionskapazitäten stünden in den Cenntro-Hallen direkt nebenan zur Verfügung.
Hernes Oberbürgermeister Frank Dudda, der sich die Produktion zeigen ließ, kann sich den Einsatz von Antric auf der „Techno Ruhr International“ vorstellen, die auf der Zechenbrache Blumenthal entstehen soll. Antric könnte Teil eines Mobilitätskonzeptes sein.
Erst kam Tropos nach Wanne-Süd, dann Cenntro und nun Antric
Um die Ansiedlung von Antric in Wanne-Süd zu verstehen, muss man in die Vergangenheit schauen: Nachdem sich die Mosolf-Gruppe aus Kirchheim/Teck die Vertriebs- und Produktionsrechte für den elektrische Kleinlaster Tropos gesichert hatte, begann 2020 auf dem ehemaligen Heitkamp-Gelände die Produktion. Zwei Jahre später übernahm die amerikanische Cenntro Electric Group 65 Prozent der Anteile an Tropos. Schon damals hieß es in einer Mitteilung, dass geprüft werde, ob weitere Produkte am Standort gefertigt werden können. Das Ergebnis: Die Produktionsverlagerung von Antric aus Bochum nach Herne, nachdem Cenntro bei dem Start-up eingestiegen war.