Herne. Albert Meister war überzeugter Nazi und bis 1942 OB in Herne: Wie sich seine Enkelin mit der belasteten Geschichte der Familie auseinandersetzt.
Ihren Opa hat Barbara Meister nie kennengelernt - kam sie doch 18 Jahre nach dem Tod des einstigen Herner Oberbürgermeisters und überzeugten Nazis Albert Meister zur Welt. Und trotzdem spielt der 1942 an einer schweren Krankheit verstorbene Großvater eine wichtige Rolle im Leben der gebürtigen Hernerin.
Im Alter von 13 Jahren habe sie mit ihrer Klasse im Geschichtsunterricht die Themen Nationalsozialismus sowie Judenverfolgung und -vernichtung durchgenommen, berichtet die 63-Jährige im Gespräch mit der WAZ. „Das hat mich aufgewühlt und schockiert, weil es hieß: Alle Familien waren davon betroffen.“ Von ihren Eltern habe sie erfahren, wie stark die eigene Familie „betroffen“ war. Ihr Großvater Albert Meister war Nationalsozialist, der schon lange vor der „Machtergreifung“ der NSDAP beigetreten war (siehe auch unten: „Zur Person“).
Der Opa ein überzeugter Nazi? „Das musste erst einmal sacken. Es war schwer zu ertragen“, so Meister. Doch dann habe sie mehr wissen wollen und Fragen gestellt: „Ich wollte das verstehen: Wie kann man in so einer Zeit Bürgermeister sein? Und wie kann ein gebildeter junger Mann sich den Nazis anschließen und bis zum Ende das System aus Überzeugung unterstützen?“
Albert Meisters Sohn war Frühchen und zwei Jahre im Krankenhaus
Ihr Vater Franz-Albert habe bereitwillig mit ihr darüber gesprochen. Die aktive politische Zeit seines Vaters erlebte er aber nur als Kind: Er kam 1933 als Frühchen auf die Welt und verbrachte die ersten beiden Jahre im Krankenhaus: „Als er mit zwei Jahren nach Hause kam, haben seine Mutter und seine Oma Krankenschwestertracht angezogen, um ihn nicht zu verschrecken.“ Weder zur Mutter noch zum Vater konnte er eine echte Bindung aufbauen.
Als er Vierjähriger ist er beim Familienurlaub in Wyk auf Föhr fast gestorben. „Sein Vater wollte ihm unter Zwang Schwimmen beibringen und hat ihn ins tiefe Wasser geworfen, aus dem sie ihn dann aber nicht mehr herausbekommen haben.“ Franz-Albert wurde ohnmächtig, kam aber wieder zu sich. „Er wurde gerettet, konnte aber anschließend zwei, drei Jahre nicht sprechen. Anschließend war er sein Leben lang Stotterer.“
Ihrem Drang nach Aufklärung konnte die jugendliche Barbara Meister auch ohne Erinnerungen ihres Vaters nachgehen. „Seine beiden Schwestern waren deutlich älter als er, also war klar: Wenn ich etwas herausbekommen will, muss ich sie fragen.“ Bei Familientreffen in Herne - Barbara Meister lebte mit ihren Eltern und den drei jüngeren Geschwistern inzwischen bei Lemgo in Ostwestfalen - löcherte der Teenager seine Tanten und Onkel. Ein geschöntes Bild von Albert Meister hätten sie gezeichnet und nur vage Informationen gegeben. Und sie seien zunehmend genervt gewesen von den Fragen der Nichte. Ihr Vater habe dabei gesessen, geschwiegen und „sich einen gegrinst“. Sie habe gespürt, dass er hinter ihr gestanden habe: „Es war ein bisschen so, dass ich für meinen Papa die Auseinandersetzung geführt habe, die er nie hat führen können.“ Jahre später habe er ihr das auch bestätigt.
Bei der Familie in Herne hörte sie im Alter von 16 Jahren von einem Tag auf den anderen auf, Fragen zur NS-Zeit zu stellen. Bei einem Kaffeetrinken habe der genervte Onkel ihr versucht klarzumachen, dass unter den Nazis „alles gar nicht so schlimm“ gewesen sei. Um dies zu untermauern, habe er die Geschichte eines jüdischen Kunstmalers aus Herne erzählt - ein liebenswürdiger älterer Herr, der bei Kindern sehr beliebt gewesen sei. Die Nazis hätten ihn abgeholt, doch nach einigen Wochen sei der Maler zurück gewesen. „Die haben ihn nicht umgebracht, die haben ihm nur die Hände gebrochen“, so der Onkel.
„Ich war völlig schockiert. Von dem Tag an habe ich nichts mehr gefragt“, erzählt Barbara Meister. Die Geschichte habe ihr gezeigt, wie grausam und menschenverachtend diese Zeit gewesen sei und dass sie sich mit ihren Tanten und Onkeln zu diesem Thema „nicht auf einer Ebene treffen konnte“.
Doch schon zuvor, in ihrer Kindheit, habe sie gespürt, dass etwas in der Familie nicht gestimmt habe. Ihre 1974 verstorbene Großmutter Hedwig Meister, die Frau von Albert Meister, sei regelmäßig in Lemgo zu Besuch gewesen. „Es gab Konflikte, weil sie komische Sachen erzählt hat.“ So sei sie mal dabei ertappt worden, wie sie auf der Terrasse ihrem jüngeren Bruder habe beibringen wollen, wie man marschiert und den Hitlergruß zeigt. „Papa ist ausgerastet: Er hat seine Mutter in den VW-Käfer verfrachtet und zurück nach Herne gekarrt.“ Hedwig Meister habe offenbar den Jahren zwischen 1933 und 1942 nachgetrauert: „Das war ihre große Zeit, der hing sie nach. Sie hätte es besser wissen und reflektieren müssen.“
Der schockierende Vorfall mit der Erzählung vom jüdischen Maler mit den gebrochenen Händen habe Spuren bei ihr hinterlassen, sagt Barbara Meister. Sie habe eine ganze Weile gebraucht, um das zu verarbeiten. „Ich habe mir dann bei der Bundeszentrale für politische Bildung Bücher über die NS-Zeit bestellt, was ich kriegen konnte und mir alles reingepfiffen.“
Engagiert im Sportverein, in der SPD und bei der Awo
Auf ihren Vater habe die belastete Familiengeschichte einen „enormen Einfluss“ gehabt. Er habe sich Zeit seines Lebens auf vielen Ebenen für die Gesellschaft eingesetzt. „Er war im Sportverein, wurde Ratsherr für die SPD, engagierte sich bei der Awo und im eigenen Dorf.“ Nach ihrem durch Bafög finanzierten Lehramtsstudium - katholische Religion und Mathematik in Münster - habe ihr Vater zu ihr gesagt: „Die Gesellschaft hat dich gefördert, jetzt bist du dran und gibst etwas zurück - so wie ich es gemacht habe.“
Diese Aussage habe starken Eindruck bei ihr hinterlassen, erzählt Barbara Meister. Seit dem Studium sei sie ehrenamtlich aktiv, allerdings auf andere Weise als ihr Vater: „Ich habe bei Papa gesehen, wie aufreibend Politik ist, wie viele Intrigen es gibt.“ Sie sei zivilgesellschaftlich aktiv, habe in der Aids-Hilfe gearbeitet und engagiere sich nun schon seit Jahrzehnten im Naturschutz und für die Umwelt. Als Lehrerin habe sie in ihrer Grundschule in einem benachteiligten Stadtteil Oberhausens mehrere Schulgärten angelegt.
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Die Familiengeschichte holte sie vor acht Jahren wieder ein. Ihr Vater kam damals ins Seniorenheim, ihre an Demenz leidende Mutter hatte sich bereits zuvor in Pflege begeben müssen. Bei der Haushaltsauflösung fand Barbara Meister Fotos, alte Urkunden und andere Dokumente des ehemaligen Herner Oberbürgermeisters. Darunter war auch eine Schallplatte mit einer Tonaufnahme, die Albert Meister Weihnachten 1941 für seine Familie mit Durchhalteparolen wie „wir werden siegen“ oder „bald ist der Krieg vorbei“ selbst besprochen hatte. Barbara Meister nahm alle Sachen an sich, kam dann aber zu dem Entschluss: „Mein Großvater war eine öffentliche Person, ich stelle alles dem Museum zur Verfügung.“
Mit ihrer Tochter fuhr sie nach Herne, traf sich im Heimatmuseum mit dem städtischen Historiker Ralf Piorr und übergab ihm den Nachlass von Albert Meister. Im Museum sei ihr einiges klar geworden. „Dass er nicht nur ein Mitläufer war, wusste ich schon vorher.“ Sie habe auch erahnen können, wie ihr Großvater sein Amt ausgeübt habe. Das gesamte Ausmaß sei ihr aber erst im Heimatmuseum deutlich geworden - zum Beispiel angesichts des Fotos von 1937, auf dem Albert Meister als Bundesführer des Deutschen Sängerbundes Adolf Hitler beim Sängertreffen in Breslau die Hand schüttelt (siehe oben).
Die Geschichte ihrer Familie und ihrer persönlichen Auseinandersetzung damit hat Barbara Meister im Interview mit Ralf Piorr vor laufender Kamera erzählt. Der beeindruckende Filmbeitrag sowie diverse Familienfotos und biografische Daten sind seit November im Heimatmuseum in der Ausstellung „Was habe ich damit zu tun? Der Nationalsozialismus im Stadt- und Familiengedächtnis in Herne und Wanne-Eickel“ zu sehen. Was Barbara Meister wichtig ist zu betonen: Sie habe ihren am 5. Januar 2023 verstorbenen Vater gefragt, ob sie die Familiendokumente dem Museum überreichen und ob sie alles erzählen dürfe. „Wenn ich das nicht getan hätte, hätte ich das Gefühl gehabt, ihn zu verraten. Er war einverstanden.“
Die Ausstellung im Heimatmuseum ist noch an diesem Wochenende, 10. und 11. Februar, im Heimatmuseum an der Unser-Fritz-Straße 108 zu sehen: am Samstag von 14 bis 17 Uhr sowie am Sonntag von 11 bis 17 Uhr. Der Eintritt kostet 1,50 Euro.
Zur Person: Als Lehrer aus dem Schuldienst entlassen
- Albert Meister, geboren 1895 im Sauerland, arbeitete nach seiner Teilnahme am Ersten Weltkrieg ab 1919 als Volksschullehrer in Herne. 1923 schloss er sich der NSDAP an und wurde 1928 Stadtverordneter.
- 1931 wurde Meister wegen seiner Parteizugehörigkeit aus dem Schuldienst entlassen und arbeitete zunächst als Journalist. 1932 wurde er für die NSDAP als Abgeordneter in den Preußischen Landtag gewählt.
- Nach der „Machtergreifung“ der Nazis erfolgte im April 1933 seine Ernennung zum Herner Oberbürgermeister als Nachfolger des supendierten Kurt Täger.
- Von November 1933 bis zu seinem Tod im August 1942 war Meister auch Abgeordneter im nationalsozialistischen Reichstag.