Herne. Der Vater von Hannelore Sander ist 1942 im Konzentrationslager getötet worden. Er war Zeuge Jehovas. Wie die Hernerin heute damit umgeht.
Hannelore Sander war sechs Jahre alt, als ihr Vater umgebracht wurde. Vergast von den Nazis im Konzentrationslager. Als ihre Mutter mit ihr schwanger war, wurde ihr Vater verhaftet.
Der Grund: Karl Schurstein war Zeuge Jehovas. Die Glaubensgemeinschaft lehnte die Ideologie der Nationalsozialisten ab, verweigerte rassistisch geprägte Aktivitäten, den Hitlergruß und die Teilnahme an NS-Organisationen. Beinahe jeder Zweite von den damals rund 25.000 Mitgliedern wurde laut Zeugen Jehovas von den Nationalsozialisten verfolgt, mehr als 1750 kamen europaweit ums Leben. So auch der gebürtige Bochumer Karl Schurstein, der mit seiner Familie in Herne wohnte.
Herner im Schloss Hartheim in Österreich vergast
Nach dem Verbot der Glaubensgemeinschaft ging er als „Bezirksdienstleiter“ - also als reisender Prediger - in den Untergrund – getarnt als Vertreter für Seifen- und Friseurartikel, berichtet seine Tochter. Bereits 1934 kam es zur ersten Verhaftung. Im April 1936 wurde er erneut festgenommen und im November mit 34 weiteren Zeugen Jehovas in einem „Bibelforscherprozess“ in Herford vom Sondergericht Dortmund wegen „staatsgefährlicher“ Bestrebungen zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Er verbüßte die Strafe in Bochum. Danach wurde er in „Schutzhaft“ genommen und im April 1939 in das KZ Buchenwald überstellt. Über die Konzentrationslager Sachsenhausen und Dachau kam er schließlich am 26. Februar 1942 in das Schloss Hartheim bei Linz in Österreich, wo er noch am selben Tag vergast wurde.
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„Ich habe meinen Vater leider nie kennengelernt“, sagt Hannelore Sander, die in einem Gespräch mit der WAZ ihre Familiengeschichte erzählt. Als sie sechs Jahre alt war, wurde er getötet. Nach dem Krieg zog sie mit ihrer Mutter und ihren zwei Geschwistern nach Bad Oeyenhausen und wuchs dort auf. Später lernte sie über Freunde ihren zukünftigen - mittlerweile verstorbenen - Mann kennen.
Mit ihrer Mutter habe sie nie über das Erlebte gesprochen. „Das war nie ein Thema in unserer Familie.“ Doch eines war für Hannelore Sander schon damals klar: Leicht war es für die Mutter nie. Denn das Versorgungsamt Dortmund stellte nach der Verhaftung von Karl Schurstein seine Invalidenrente ein. Auch ein Berufungsschreiben von Karl Schurstein brachte keine Besserung. Darin schrieb er unter anderem: „Ich bitte, meiner Familie die Rente weiter zahlen zu wollen, da ein sonstiger Erwerb nicht vorhanden ist. Die Familie, Frau und drei Kinder im Alter von 6, 4 und ½ Jahr sind auf die Rente angewiesen, da die Rente stets den Lebensunterhalt bildete. Ich bitte zu prüfen, ob bei meiner Monatsmiete von 28,60 Reichsmark der Familie die Rente nicht ganz belassen werden kann.“ Die Familie hatte so keinerlei Einkommen mehr bis zum Todes des Vaters.
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Zeitzeugin berichtet in Herner Schulen
Ihr Wissen über die NS-Zeit und die Gräueltaten der Nazis nutzt die 87-jährige Hernerin dazu, um die nächsten Generationen aufzuklären. Als Zeitzeugin berichtet sie in verschiedenen Schulen über diese Zeit. Die Schülerinnen und Schüler seien sehr neugierig und höflich, so Sander.
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Die Bochumer Historikerin Sabine Krämer erläutert: „Über Karl Schurstein sind Aussagen seiner Glaubensbrüder überliefert, die überlebt haben. Er hat tatsächlich in seinem Holzbein verbotene Schriften und Bibeltexte in die Lager geschmuggelt und auch weiterhin geheime, religiöse Treffen abgehalten. Zu erwähnen ist auch, dass man den Zeugen Jehovas wirklich eingeräumt hat, wenn sie ein Formular unterschreiben, in dem sie erklären, dass sie fortan ihren Glauben nicht ausüben würden, sie tatsächlich aus der KZ-Haft hätten entlassen werden können. Von dieser Möglichkeit haben aber nur sehr wenige Gebrauch gemacht. Die meisten haben lieber Folter, Martyrium und Tod erduldet, als ihrem Glauben zu entsagen.“