Herne. Deutschland hat ein Ziel: Bürokratie abbauen. Die Realität sieht anders aus. Den Herner Reifenhändler Stiebling überrollt sie gleich doppelt.

Das ist ein gern genutztes Schlagwort seit einiger Zeit: Bürokratieabbau. Unternehmen fordern ihn, Politiker versprechen ihn. Doch die Realität bietet ein völlig anderes Bild: Den Herner Reifenhändler Stiebling überrollen die Verordnungen und Regelungen gleich doppelt - mit den neuen Mautbestimmungen und Plastiktüten...

Es ist gar nicht lange her, da freuten sich die Geschäftsführer Alexander und Christian Stiebling darüber, dass sie durch eine konsequente Digitalisierung Mitarbeiter von lästiger Papierarbeit abziehen und an anderer Stelle einsetzen konnten. Doch es kann sein, dass der eine oder andere Beschäftigte an der Jean-Vogel-Straße wieder ins Papyruszeitalter zurückversetzt werden muss. Die neuen Mautbestimmungen könnten es erforderlich machen.

Der Grund: Ab Juli dieses Jahres muss auch für alle Lkw mit mehr als 3,5 Tonnen Gesamtgewicht die Maut bezahlt werden. Doch selbstverständlich gibt es keine Regel ohne Ausnahmen - bei denen die Mautpflicht entfällt.

Maut unterscheidet zwischen Handwerkerware und Handelsware

So wird unterschieden zwischen Fahrzeugen, die Handelsware ausliefern und Fahrzeugen, die Handwerker-Ware transportieren. „Das führt bei uns konkret dazu, dass wir Maut zahlen müssen, wenn wir Neureifen zu einem Kollegen liefern. Doch wenn in dem Wagen runderneuerte Reifen sind, dann müssen wir keine Maut bezahlen, da es sich um Handwerker-Ware handelt. Wenn wir aber Neureifen zu einem Kunden bringen und sie dort montieren, ist es nicht mautpflichtig, weil es sich um eine handwerkliche Tätigkeit handelt“, beschreibt Christian Stiebling die feinen, aber wichtigen Unterschiede. Alles klar so weit?

Ab Juli kontrollieren die Mautsäulen auch Lkw ab 3,5 Tonnen. Die Ausnahmeregelungen bedeuten für das Herner Unternehmen Stiebling eine Menge Bürokratie.
Ab Juli kontrollieren die Mautsäulen auch Lkw ab 3,5 Tonnen. Die Ausnahmeregelungen bedeuten für das Herner Unternehmen Stiebling eine Menge Bürokratie. © U. Baumgarten via Getty Images | Ulrich Baumgarten

Und wie sollen die Mautstationen erkennen, welche Ware gerade in den Lkw liegt? Die Erfassungsstellen an den Autobahnen registrieren ja lediglich anhand der Kennzeichen, ob die Fahrzeuge mautpflichtig sind oder nicht. Die Konsequenz, so Stiebling, dürfte folgende sein: Das Unternehmen bekomme von „Toll Collect“ Rechnungen zugeschickt und müsse in jedem Fall nachweisen, welche Ware auf welcher Tour transportiert worden ist. Doch wie kann Stiebling den Nachweis liefern? Mit den Lieferscheinen. „Das heißt für uns, dass wir jetzt einen Mitarbeiter abstellen müssen, der die Rechnungen von Toll Collect sichtet, die Lieferscheine zu der Fahrt heraussucht und diese Lieferscheine an Toll Collect schickt, damit die Rechnung storniert wird“, so Alexander Stiebling. Doch da die Stiebling-Lieferscheine überprüft werden müssten, sei sowohl bei Stiebling als auch bei Toll Collect jeweils ein Mensch mit Bürokratie beschäftigt. Stieblings gehen davon aus, dass dieses Hin und Her nicht digital funktionieren wird. „Wahrscheinlich wird es per Fax gemacht“, vermuten beide mit einem guten Schuss Ironie. Und bei alldem sei noch gar nicht geklärt, was passiert, wenn Handwerkerware und Handelsware zusammen in einem Wagen liegen.

Damit nicht genug: Stiebling hat auch Fahrzeuge für die Lkw-Pannenhilfe. Für diese habe man bereits Anträge auf Maut-Befreiung gestellt, weil es sich bei einer Reparatur zweifelsfrei um eine handwerkliche Tätigkeit handelt. Doch der Gesetzgeber habe festgestellt, dass dies nicht im Fahrzeugschein verzeichnet ist. „Deshalb fotografieren wir alle Autos von außen und innen und schicken die Fotos zum Bundesamt für Logistik und Mobilität“, so Stiebling. Dort schaue man sich die Fotos an, um festzustellen, ob es sich um ein Pannenfahrzeug handele. Dann erst werde das Kennzeichen gespeichert, um diesen Lkw von der Maut zu befreien.

Stiebling gilt als Hersteller von Plastiktüten

Aber es kommt noch „besser“: Bis vor einiger Zeit war Stiebling gar nicht bewusst, dass sie als Hersteller von Plastiktüten gelten. Des Rätsels Lösung: Wer im Frühjahr und Herbst Reifen wechselt, steckt sie in Plastiktüten, damit das Wageninnere nicht schmutzig wird. Doch diese Tüten fallen unter das Verpackungsgesetz - und der Kfz-Betrieb, der dem Kunden die Reifen in so einer Verpackung übergibt, gilt als Hersteller. Die Definition lautet nämlich: „Ein Hersteller bringt erstmals gewerbsmäßig in Deutschland eine Ware mit verfüllter Verpackung in Verkehr.“ Damit sind Pflichten für den Hersteller verbunden. Er muss sich im Verpackungsregister der Stiftung Zentralstelle Verpackungsregister registrieren, sonst darf ein Kfz-Betrieb seine Reifentüten eigentlich nicht mehr ausgeben. Der Bundesverband Reifenhandel geht inzwischen gegen diese Vorgabe vor und will die Tüten als Transportschutz definieren lassen.

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Für Stiebling wird es noch extremer: Da das Unternehmen Lkw-Reifen runderneuert, muss auf den Reifen ein Aufkleber pappen, auf dem steht, wo und wann der Reifen hergestellt worden ist. „Das ist auch sinnvoll. Wenn der Reifen platzen sollte, kann man nachvollziehen, woher er kommt“, so Christian Stiebling. Aber selbst der kleine Aufkleber fällt auch unter die Verpackungsverordnung. Also muss auch er registriert werden...

Angesichts dieses Paragrafen-Wusts zieht Christian Stiebling ein bitteres Fazit: „Es ist hanebüchen, wir strangulieren uns selbst.“

Er erzählt, dass seine Frau inzwischen den Mechanismus des Bürokratieabbaus durchschaut habe: „Mit dem Bürokratieabbau ist es wie mit Diäten – hinterher hat man immer mehr, und die Intervalle werden immer kürzer.“