Herne. Warum sich Till Beckmann nach dem Rauswurf an einem Dortmunder Theater am Ende als Sieger sehen darf und weshalb Herne von dem Eklat profitiert.
In einer dreiteiligen Veranstaltungsreihe im Dortmunder „U“ blickt Adolf Winkelmann (75) derzeit mit dem Herner Till Beckmann auf sein bewegtes Schaffen als Filmregisseur zurück. Falls auch Beckmann (36) in einigen Jahrzehnten in einem ähnlichen Format – sagen wir mal: in den Flottmann-Hallen – auf ein erfülltes Künstlerleben zurückblicken sollte, dürfte der Eklat am freien Dortmunder Theater Fletch Bizzel anno 2021 eine besondere Rolle spielen.
Zur Erinnerung: Nach nicht einmal drei Monaten Amtszeit und einer Auseinandersetzung um eine Urban-Arts-Ausstellung von Pottporus e.V. (Herne) war das junge Leitungsteam Till Beckmann und Cindy Jänicke im April vom Träger- bzw. Förderverein des Fletch auf die Straße gesetzt worden. Vier Monate später einigten sich die Parteien am Dortmunder Arbeitsgericht auf einen Vergleich, den Beckmann für sich als Erfolg und vor allem als Bestätigung verbuchen kann.
Fletch: Schwere Vorwürfe wurden zurückgenommen
So sah die Einigung aus: Die fristlose Kündigung wurde in eine fristgerechte umgewandelt. Beckmann und Jänicke erhielten als Abfindung jeweils drei Monatsgehälter. Und nicht zuletzt wurden die vom Verein angeführten offiziellen Kündigungsgründe – darunter so schwerwiegende und rufschädigende Vorwürfe wie das Vernichten von Dokumenten, Weitergabe von Interna an die Presse und Löschen von Mails – komplett zurückgenommen. Der Grund für den Rausschmiss dürfte vielmehr im Druck des Vermieters der Fletch-Räumlichkeiten liegen, dem sich der vom langjährigen Theaterleiter Horst Hanke-Lindemann geführte Förderverein gebeugt hatte.
Das ist dokumentiert durch mehrere Mails und letztlich auch den Gütetermin am Arbeitsgericht. Als „Kronzeuge“ konnte Beckmanns Anwalt den Chef der Anwaltskanzlei des Fördervereins präsentieren. Dieser wunderte sich im April in einer Mail an Hanke-Lindemann über die Rolle des Vermieters: „Die weiteren E-Mails des Vermieters erwecken in mir als außenstehenden Betrachter den Eindruck, dass sich jener nicht nur als Grundstückseigentümer, sondern auch als Programmverantwortlicher sieht und fühlt. Das wäre erstaunlich“, so heißt es in der beim Gütetermin verlesenen Mail. Umso erstaunlicher, dass Hanke-Lindemann nach dem Vergleich am Arbeitsgericht behauptete, dass der Fletch-Vermieter „in 35 Jahren noch nie Einfluss“ aufs Programm genommen habe.
Als „Schaden für die gesamte Kulturszene der Stadt“ bezeichneten die Ruhr Nachrichten die Folgen des Eklats an dem renommierten freien Theater, das jährlich mit mehr als 300.000 Euro aus dem städtischen Kulturtopf gefördert wird. Zu einer öffentlichen politischen Debatte kam es trotzdem nicht. Auf Nachfrage der WAZ bei Dortmunder Ratsparteien begründete die SPD-Fraktion ihr Schweigen damit, dass „dies eine Angelegenheit der Beteiligten ist“. Die CDU teilte mit, dass sie sich nicht in Angelegenheiten des (bezuschussten) Fördervereins des Fletch einmische. Ähnlich argumentierte die Grünen-Fraktion, die auf die Unabhängigkeit der freien Kulturszene verwies. Die Politik gebe lediglich einen Rahmen vor.
Politik sieht keinen öffentlichen Diskussionsbedarf
Linken-Ratsherr Thomas Zweier betonte auf Anfrage, dass zugunsten des Fortbestands der freien Kulturzentren auch bei einer Abhängigkeit vom Goodwill eines privaten Vermieters „im Zweifelsfall nicht ein Auslaufen oder Kündigung eines Mietvertrags“ riskiert werden sollte. Der Verlust einer bewährten Spielstätte und die schwierige Suche nach einem neuen Standort würden der freien Dortmunder Kulturlandschaft „einen größeren Schaden zufügen als der Verlust eines hoch gelobten Künstlerduos“, so Zweier. Der Einfluss privater Vermieter auf die freie Kunst könne nur durch Spielstätten in stadteigenen Immobilien verhindert werden.
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Und was sagt die Stadt Dortmund? Er sei froh, dass die Konfliktparteien eine Lösung gefunden hätten, erklärte Kulturdezernent Jörg Stüdemann (SPD) auf Anfrage. Man könne auch nicht erkennen, dass der heftige Streit die Kulturszene insgesamt beschädigt habe. Ein Beweis, dass der Vermieter zwingende inhaltliche und künstlerische Vorgaben gemacht hat, liege der Kulturverwaltung nicht vor, so der Dezernent.
Tiefe Kenntnis über die Vorgänge hatte die Stadt aber sehr wohl, da sie schon frühzeitig mit den Beteiligten (erfolglose) Schlichtungsgespräche geführt hatte. Stüdemann räumte gegenüber der WAZ allerdings nur ein: „Wir können gleichwohl erkennen, dass zwischen Theaterbetrieb und Immobilieneigentümer eine zumindest ungewöhnliche Relation bestanden hat.“
Dieser bundesweit wohl einmalige Vorgang – Vermieter diktiert Kulturprogramm und übt Zensur aus – hat aber auch etwas Gutes, und zwar für Herne. So sind Till Beckmann und Cindy Jänicke nun auf verschiedenen Ebenen bei Pottporus aktiv. Jänicke ist inzwischen Dramaturgin bei dieser in Herne ansässigen Kreativschmiede von Zekai Fenerci. Aktuell zeichnet sie als Kuratorin beim Projekt „Urban Discoveries“ verantwortlich, bei dem eine nackte Wand am Wanner Hauptbahnhof durch Graffiti veredelt wird.
Till Beckmann und die Spielkinder produzieren Hörspiel für den WDR
Till Beckmann hat sich derweil in den Vor-Fletch-Status zurückgebeamt. Heißt: Er engagiert sich in gefühlt 23 künstlerischen Projekten gleichzeitig. So arbeiten er und Jänicke für Pottporus mit dem Stuttgarter Kollektiv „Umschichten“ daran, „in Wanne mit den Mitteln der urbanen Kunst das Potenzial der Menschen sichtbar zu machen“. Mit dem Ensemble „Spielkinder“, sprich: mit seinen Schauspiel-Geschwistern Lina, Maja und Nils, seinem Schwager Charly Hübner sowie Gästen produziert er für den WDR das Hörspiel „Marie Ka Ich“.
Hinzu kommen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) die Teilnahme mit dem Pangalaktischen Theater am Berliner Festival „Theater der Dinge“ (mit dem Film: „Die Eigentumshöhle“), diverse Theateraufführungen, Moderationen sowie Projekte am Maschinenhaus der Essener Zeche Carl. Und das ursprünglich in Kooperation mit Adolf Winkelmann fürs Fletch geplante Bühnenprogramm über den Wanner „Ölkönig“ Erhard Goldbach will Beckmann auch nicht aus den Augen verlieren.
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Zurück zum Fletch: Für ihn stehe diese Episode auch exemplarisch für andere Institutionen und Orte im Ruhrgebiet, sagt Till Beckmann. Er habe die skandalösen Vorgänge, verkrusteten Strukturen und Machenschaften rund um das Theater und den Vermieter öffentlich gemacht, „weil hier wie unter einem Brennglas Faktoren sichtbar wurden, die künstlerische Entwicklung und Neuausrichtung unmöglich machen“. Und mit Blick auf Pottporus: „Ich bin sehr glücklich darüber, dass Cindy und ich Teile unseres Konzepts nun an anderer Stelle erfolgreich umsetzen können und dass wir viel Zuspruch aus der Kunst- und Theaterszene erfahren“, sagt der Herner. Zekai Fenerci und sein Team arbeiteten an vielen Stellen weiter daran, Urban Arts als gleichberechtigte, zeitgemäße Kunstform zu etablieren.
>> Fletch Bizzel – die Chronologie
Der Herner Till Beckmann übernimmt mitten im Lockdown zum 1. Februar 2021 mit Cindy Jänicke die Gesamtleitung des freien Dortmunder Theaters Fletch Bizzel. Ihr Vorgänger Horst Hanke-Lindemann – er führte das Theater mehr als 35 Jahre lang - bleibt als (mächtiger) Vorsitzender des Förder- bzw. Trägervereins im Boot.
Das Fletch setzt das vom neuen Leitungsteam erarbeitete und von Hanke-Lindemann unterstützte neue Konzept um. So startet unter anderem in Kooperation mit dem Herner Verein Pottporus ein Urban-Arts-Projekt mit Graffiti, Malerei und Installationen.
Jochen Niemeyer, Vermieter der Fletch-Räumlichkeiten, kritisiert im März in einer Mail an den Förderverein die neue künstlerische Ausrichtung und ausdrücklich die Aufnahme der Sparte Tanztheater. Die Bitte des Vereins um einen längerfristigen Mietvertrag – bis dato beträgt die Dauer jeweils nur zwölf Monate - lehnt er ab und schreibt in einer Mail: „Solange wir kein greifbares und vernünftiges Konzept erkennen können, können bzw. wollen wir uns vertraglich nicht festlegen.“ Das Online-Portal „Nordstadtblogger“ zitiert den Vermieter mit dem auf die neue Programmstruktur bezogenen Satz: „Mit Theater hat das ja nichts mehr zu tun.“
Der Vermieter stoppt am 27. März das Projekt von Pottporus im Fletch und kündigt gleichzeitig fristgemäß den jeweils nur über ein Jahr laufenden Mietvertrag. Er spricht von Sachbeschädigung und Verstöße gegen den Brandschutz. Pottporus und Beckmann/Jänicke weisen alle Vorwürfe detailliert zurück. Der Fletch-Förderverein stellt sich jedoch hinter den Ausstellungs-Stopp durch den Vermieter. Pottporus, Beckmann und Jänicke beenden die Urban-Arts-Ausstellung; die Räumlichkeiten werden in den Ursprungszustand versetzt.
Der Förderverein kündigt dem neuen Leitungs-Duo Ende April fristlos und setzt damit offenbar die Bedingung des Vermieters für die Fortsetzung des Mietvertrags fürs Fletch Bizzel um. Jänicke und Beckmann klagen gegen die Kündigung.
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Die Schauspielerin Maja Beckmann, Schwester von Till, gibt aus Protest gegen die Vorgänge am Fletch Bizzel den ihr 2010 verliehenen (und von Hanke-Lindemann ins Leben gerufenen) Tana-Schanzara-Preis zurück. „Ich möchte keinen Preis annehmen von einem Veranstalter, der seine Mitarbeitenden mit fadenscheinigen und diffamierenden Gründen fristlos kündigt“, so die Begründung der deutschen Bühnenschauspielerin des Jahres 2021.
In der freien Dortmunder Kulturszene werden ebenfalls Kritik und Fragen laut. Eine Gruppe um die Journalistin Sabine Brandi und Adolf Winkelmann sowie das Netzwerk „dott“ (Dortmunder Tanz- und Theaterszene) schreiben Offene Briefe an die Stadt. David Schraven, Chef des gemeinnützigen Recherchezentrums Correctiv, spricht vom aktuell „größten Kultur-Skandal in NRW“ und fragt nach der Verantwortung der Stadt.
Der erste Gütetermin zur fristlosen Kündigung mit Cindy Jänicke endet im Juni am Dortmunder Arbeitsgericht ohne Ergebnis. Beim Gütetermin am 19. August einigen sich die Parteien auf einen Vergleich (siehe oben).
Mit Rada Radojcic nimmt eine neue künstlerische Leiterin die Arbeit im Fletch Bizzel auf. Kabarett, Lesungen und Kindertheater dominieren das Programm.