Herne. Vor 20 Jahren ereigneten sich die Terroranschläge in den USA. Die Herner WAZ hat mit zwei Hernern über ihre Erinnerungen an den Tag gesprochen.
Das Datum löst sofort Bilder, Gedanken und Erinnerungen aus: 11. September, wahlweise auch die amerikanische Chiffre 9/11. Vor 20 Jahren ereigneten sich die Terroranschläge in den USA. Die Herner WAZ hat mit zwei Hernern über ihre Erinnerungen gesprochen.
Die Anschläge bildeten ein so einschneidendes Ereignis, dass im Grunde jeder Mensch heute noch weiß, wo er in jenem Moment war, als er davon erfuhr. Die Amerikanerin Mishe Schemmann-Lorenz (59), die als freiberufliche Kreativdirektorin für viele große Unternehmen weltweit arbeitet, war auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch in Gelsenkirchen, wie sie im Gespräch mit der WAZ-Redaktion erzählt. Als sie im Radio gehört habe, dass ein Flugzeug in einen Turm des World Trade Centers geflogen sei, habe sie es im ersten Moment für eine Satire gehalten, so etwas wie das Hörspiel „Krieg der Welten“, das die Menschen bei der Ausstrahlung in Panik versetzte. Als sie jedoch bei ihrem potenziellen neuen Arbeitgeber angekommen sei, habe sie gesehen, wie alle Mitarbeiter die Liveübetragungen verfolgten. Als sie wieder zu Hause gewesen sei, habe sie selbst stundenlang das Geschehen im Fernsehen verfolgt und auch geweint.
Sie habe zwei Cousins und einen Onkel, die zu jenem Zeitpunkt in der Finanzindustrie in New York gearbeitet hätten, doch die Versuche, sie zu erreichen, seien erfolglos geblieben. Wie sich im Nachhinein herausgestellt habe, habe einer der Cousins an jenem Morgen eigentlich einen Termin in einem der Türme gehabt, sei jedoch krank gewesen - und damit nicht vor Ort. Auch die anderen seien verschont geblieben.
„Anschläge haben eine Welle der Angst ausgelöst“
„Der Anschlag war deshalb so bedeutsam, weil es der erste Terroranschlag war, der weltweit übertragen wurde“, so Schemmann. Er habe eine Welle der Angst ausgelöst, die bis heute nicht abgeebbt sei. Er habe eine Gesellschaft geschaffen, die eher aus Angst Entscheidungen treffe, als aus Hoffnung. Ein Beispiel in den USA sei der sogenannte „Patriot Act“, der nach den Anschlägen verabschiedet wurde und die Bürgerrechte einschränke.
Auch wenn Schemmann 9/11 nur aus der Ferne beobachtet hat: Sie weiß, wie es sich anfühlt, wenn einem der Terror nahe kommt. Als der Islamische Staat im November 2015 die Anschläge in Paris verübte, war sie mit ihrer Familie in der Stadt.
Zurück ins Willy-Brandt-Haus mit vielen Fragen im Kopf
Jemand, der einen sehr politischen Blick auf das Geschehen hatte und hat, ist Franz Müntefering. Er war zum Zeitpunkt der Anschläge Generalsekretär der SPD in Berlin.
Er sei auf dem Weg zu einem alltäglichen Termin gewesen, als er über das Autotelefon eine Meldung bekommen habe, in den USA sei ein Flugzeug mit einem Hochhaus kollidiert. „Ich habe im ersten Moment gedacht, dass das ein Sportflugzeug ist, das sich verirrte“, so Müntefering im Gespräch mit der Herner WAZ-Redaktion. Deshalb sei man weitergefahren. Minuten später sei die Meldung über ein zweites Flugzeug gekommen und klar geworden, dass es sich um einen gezielten Anschlag handeln musste. Er sei sofort zurück ins Büro im Willy-Brandt-Haus gefahren. Mit vielen Fragen im Kopf: Waren die Täter? Ging es um Krieg und Frieden? Zumal ein drittes Flugzeug beteiligt war.
Es habe im weiteren Verlauf zwar Nachrichten aus dem Bundeskanzleramt gegeben, aber viele Dinge seien unklar gewesen. „Deshalb haben wir gewartet, was die vor Ort Betroffenen dazu sagen, und das waren die USA.“ Er habe so viele Nachrichten gesucht, gehört und geschaut wie möglich, aber die Dichte und Schnelligkeit zum Geschehen sei noch nicht so hoch gewesen wie heute.
„Anschläge haben die Illusion vom Ende der Konflikte im Weltmaßstab zerbersten lassen“
Gerhard Schröder war damals Bundeskanzler, und es habe einen Draht ins Kanzleramt gegeben. „Das ist ein Ereignis, zu dem sich Politik aufklärend und orientierend verhalten muss.“ Welche Signale konnte man in die Partei geben? Das sei aber nicht mehr am 11. September selbst erfolgt, sondern später.
Müntefering: „Die Dimension der Anschläge war dramatisch.“ Man habe nur hoffen können, dass trotzdem alle die Nerven behalten und die Dinge nichts eskalierten. Mit den Anschlägen sei die Illusion zerborsten, dass nach dem Ende des Ost-West-Bipolarität und dem Niedergang der Sowjetunion die Konflikte im Weltmaßstab endlich vorbei sind. „Aber am 11. September habe ich die ganze Dimension des Anschlags noch nicht gesehen. Vergessen wird man den Augenblick und seine Botschaften nie.“
GROSSE BETROFFENHEIT AUCH IN HERNE
Nach den Anschlägen schienen auch in Herne die Uhren in den Tagen danach still zu stehen.
„Das ist ganz furchtbar. Es wird uns alle verändern“ – tief betroffen und entsetzt reagierten die Bundestagsabgeordneten Ingrid Fischbach (CDU) und Dieter Maaß (SPD). Fischbach hoffte, „dass es in der Welt, vornehmlich in Amerika, kühle Köpfe gibt, die jetzt handeln.“
Auch die rund 600 Schüler der Berufsschule am Westring und des Pestalozzi-Gymnasiums waren bestürzt und beschlossen eine spontane Aktion: „Gegen Terror und Gewalt“ – „Solidarität mit den Opfern“ schrieben sie auf Transparente, die sie vor dem Rathaus hochhielten. Ein Schüler sprach aus, was viele dachten: „Da bekommt man wirklich tierische Angst vor einem dritten Weltkrieg.“
In fünf Gedenkminuten stand das öffentliche Leben in Herne still
Derweil hielten Herner Gemeinden ökumenische Gottesdienste ab, um für die Opfer und deren Angehörige zu beten. Schulklassen und Bürger legten Blumen vor dem Rathaus nieder und zündeten Kerzen an. IG Metall und der DGB riefen zu fünf Gedenkminuten gegen Terror und Gewalt und für Frieden und Freiheit auf. In Betrieben und Büros, in Geschäften und in Arztpraxen, in Cafés und an Tankstellen, in Bussen und Bahnen – das öffentliche Leben stand für fünf Minuten still. Auf dem Rathausplatz versammelten sich 2000 Bürger und brachten ihr Entsetzen über den Terroranschlag mit einer Schweigeminute zum Ausdruck. Ein Kondolenzbuch lag im Rathaus aus.
Nach den Anschlägen am Dienstag schien es vielen Menschen unpassend, Veranstaltungen wie geplant durchzuführen. So wurde der „Ball de Ruhr“ verschoben. Die Flottmann-Hallen sagten alle bis Sonntag geplanten kulturellen Veranstaltungen ab. Die Werbegemeinschaften strichen Herbstfest sowie Eickeler Spätsommer. Die Interkulturellen Wochen hingegen fanden statt: Sie abzusagen, wäre nach dem Dafürhalten des Vorsitzenden des Ausländerbeirates, Memis Sahin, ein falsches Signal gewesen: „Sie sollen schließlich zusammenführen.“