herne.. Nach fast zwei Jahrzehnten im Bundestag beendet Ingrid Fischbach (CDU) ihre Karriere. Im Interview blickt sie zurück und verrät Zukunftspläne.


Nach beinahe 20 Jahren im Bundestag stellt sich Ingrid Fischbach (60) am 24. September nicht mehr zur Wahl. Mit den WAZ-Redakteuren Lars-Oliver Christoph und Gabriele Heimeier blickte die Herner Christdemokratin zurück auf knapp zwei Jahrzehnte Bundestag und verrät ihre Pläne für die Zukunft.

Sie sind 1998 zum ersten Mal in den Bundestag gewählt worden. Mit welchen Gefühlen?

Ingrid Fischbach: Ich hatte damals nicht damit gerechnet. Für mich sollte die Kandidatur eher ein Testlauf für die Bundestagswahl 2002 sein. Ganz ehrlich: Ich war zunächst nicht begeistert.

Warum nicht?

Meine Tochter hatte damals noch nicht das Abitur. Und ich hatte als Lehrerin auf der Erich-Fried-Gesamtschule meine Klasse noch nicht bis zur 10 geführt. Mein Gedanke war: Jetzt soll ich sie wieder abgeben – das geht ja gar nicht!

Es ging dann ja doch.

Meine Tochter und mein Mann haben gesagt: Wenn Du es wirklich willst, musst Du es jetzt machen. Die halten Dir den Platz nicht vier Jahre frei. Und das stimmt ja auch.

Welche Erwartungen und Hoffnungen hatten Sie damals?

Ich war sehr naiv. Ich sagte mir, wenn Du eine gute Idee hast, dann bringst Du sie vor – und dann sagen alle: Ja ist toll. Ich musste lernen, dass es Strukturen und Mechanismen gibt. Wenn man eine gute Idee hat, geht man damit nicht sofort in die Fraktion, sondern geht Schritt für Schritt vor und sucht sich Verbündete. Das habe ich schnell begriffen und mir ein Netzwerk aufgebaut.

Hatten Sie eine gute Idee?

Ich wollte zum Beispiel die Kinderbetreuung für Familien verbessern. Ich habe dann auch die Chance bekommen, einen Antrag zu entwickeln. Ich hatte aber irgendwann genug, weil jede Gruppe in der Fraktion etwas gestrichen hatte. Ich bin dann zur Fraktionsvorsitzenden Frau Merkel gegangen und habe gesagt: Den Antrag bringe ich nicht mehr ein, den können Sie so vergessen. Sie hat anschließend dafür gesorgt, dass sich alle Verantwortlichen noch einmal an einen Tisch setzen.

Was hat sich seit 1998 im Bundestag grundlegend verändert? Was ist die einschneidendste Änderung?

Durch die Entwicklung der Medien und vor allem der sozialen Medien wird häufig nur noch darauf geachtet: Wer kommt wie vor? Man nimmt sich nicht mehr die Zeit, Themen in Ruhe zu diskutieren, sondern geht sofort in die Öffentlichkeit. Das bedauere ich sehr.

Wie hat die CDU sich in dieser Zeit verändert?

Wir haben viele richtungsweisende und harte Diskussionen geführt, zum Beispiel über Kinderbetreuung oder gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Dabei gab es auch Paradigmenwechsel. Ich hatte vier Fraktionsvorsitzende: Schäuble, Merz, Merkel und Kauder. Auch wenn es keiner glauben mag: Die offenste Diskussionskultur hatten wir bei Friedrich Merz. Gerade als junge Abgeordnete hatte ich das Gefühl: Wenn Du klug argumentierst, hast Du eine Chance, Meinungen umzukehren.

Der CDU wird von konservativer Seite häufig vorgeworfen, dass sie unter Angela Merkel eine sozialdemokratische Partei geworden ist.

Das sehe ich nicht so. Unser CDU-Herz kommt sehr wohl zur Geltung. Ich bin konservativ. Warum soll man nicht an guten Dingen festhalten? Doch wenn man sie erhalten will, muss man sie weiterentwickeln. Man muss sich dann zum Beispiel auch der Diskussion über die Betreuung von Kindern unter drei Jahren stellen. Die anfangs härtesten Gegner waren später die Fürsprecher, weil ihre Töchter sie überzeugt hatten. Ich werde nie vergessen, als Edmund Stoiber in die Frauengruppe kam und fragte: Was ist denn jetzt mit U3-Betreuungsplätzen? Seine Tochter ist Rechtsanwältin und hat darauf gedrängt. Leider hat sich der Wind inzwischen wieder etwas gedreht: Junge Männer befürchten stärkere Konkurrenz, weil es heute mehr junge Frauen gibt, die Positionen beanspruchen.

Wie beurteilen Sie die Rolle von Angela Merkel?

Auf einem aktuellen Wahlplakat wird sie so charakterisiert: Klug, besonnen, entschieden. Genau so schätze ich sie ein. Nach außen wirkt es, als wenn sie Probleme aussitzt. Man kann darüber diskutieren, ob das immer gut ist. Auch ich habe damit manchmal Probleme gehabt. Doch wenn man das Ganze betrachtet, stellt man fest, dass sie zusammenführt.

Und wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Frau Merkel beschreiben?

Wir reden natürlich miteinander und besprechen bestimmte Sachen. Ich durfte sie auch mal nach China begleiten, da kommt man sich näher. Sie hat mir aber nicht vergessen, dass ich auf einem Parteitag gegen das Betreuungsgeld aufgestanden bin.

Wie hat sich Ingrid Fischbach in knapp 20 Jahren Bundestag verändert?

Ich habe immer versucht, an der Basis zu sein und nicht abzuheben. Es bleibt aber nicht aus, dass man sich verändert. Ich bin zum Beispiel härter geworden. Das war aber auch nötig, denn ohne Härte kriegen Sie einige politische Entscheidungen nicht durch. Ich habe nie ein Amt in der Fraktion angestrebt, aber ich wollte als Abgeordnete ernst genommen werden. Und irgendwann habe ich gemerkt, dass man dafür Funktionen braucht. Mir ist auch zugute gekommen, dass die CDU 1998 in der Opposition war.

Das müssen Sie erläutern.

Es war gut, dass ich in den ersten beiden Legislaturperioden alles selbst lesen, selbst schreiben und Anträge selbst formulieren und auf den Weg bringen musste. Ich konnte nicht mal eben ein Ministerium anrufen und um Unterstützung bitten. Deshalb bewundere ich die kleinen Fraktionen, weil diese sich selbst in so viele Themen einarbeiten müssen.

Welche weiteren Veränderungen haben Sie an sich festgestellt?

Ich habe eine Eigenschaft: Ich bin ungeduldig. Das ist im Laufe der Jahre noch schlimmer geworden. Ich möchte schneller Ergebnisse sehen. Deshalb ist es auch gut, dass ich freiwillig entschieden habe: Ich höre auf. Das habe ich in der Herner CDU übrigens schon zu Beginn der Legislaturperiode angekündigt, doch das hat mir zunächst keiner geglaubt – auch weil ich gerade erst Parlamentarische Staatssekretärin geworden bin. Markus Schlüter hat damals als Parteivorsitzender gesagt, dass er mit mir essen gehen will, um noch einmal darüber zu reden. Ich habe gesagt: Markus, du kannst mit mir jeden Abend essen gehen, doch die Entscheidung ist gefallen.

Was hatten Sie sich für die letzten vier Jahre vorgenommen?

Die Pflege war mir sehr wichtig. Dass ich dann noch die Chance bekam, bei diesem Thema an exponierter Stelle zu wirken, war auch für mich überraschend.

Wie läuft so etwas eigentlich ab?

Die Kanzlerin hat mich überreden müssen. Ich war auch nach so vielen Jahren wohl etwas blauäugig! Zunächst habe ich gesagt, dass ich für zwei Bereiche grundsätzlich nicht zur Verfügung stehe: Umwelt und Gesundheit. Frau Merkel hat mir dann am Telefon gesagt: Ich traue Ihnen das zu. Ich bin bei diesem Gespräch immer größer geworden und dachte schließlich: Klar, das kannst du! Nach meiner Entscheidung galt zunächst mal: einarbeiten, einarbeiten, einarbeiten! Es hat aber Spaß gemacht, etwas Neues zu lernen und aus dem üblichen Trott herauszukommen.

Wo sehen Sie im Bereich Gesundheit die größten Baustellen?

Wir haben bei der Pflege einiges abgeräumt und auch erreicht. Das muss aber fortgesetzt werden. Mehr erreicht hätte ich gerne im Bereich Krankenhausversorgung/ärztliche Versorgung. Bei Fragen wie „wie halten wir den Standort Deutschland?“ und „wie werden wir den Patienten gerecht?“ müssen wir die nächsten Schritte gehen und intensiver mit den Ländern diskutieren.

Die WAZ hat jüngst berichtet, dass die stationäre Pflege in Seniorenheimen in NRW zum Teil 1000 Euro teurer ist als beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern. Wie kann so etwas sein?

Wir sind gerade dabei, diese Studie auszuwerten. Sie haben Recht: Auf dem ersten Blick ist das nicht erklärbar. Wir müssen aber auch grundsätzliche Fragen aufwerfen.

Nämlich?

Was ist uns Pflege wert? Ein Umdenken ist nötig. Bei aller Liebe zu polnischen Pflegekräften: Ich möchte nicht, dass jemand sieben Tage die Woche und 24 Stunden am Tag für einen Lohn von 1600 Euro brutto arbeitet. Das kann nicht die Lösung für die Pflege sein - und auch nicht für die polnischen Frauen. Wir haben die Pflegeversicherung 1995 auf den Weg gebracht und das eine oder andere Schräubchen gedreht, aber eine echte Reform ist erst jetzt eingeleitet werden. Das muss nun mit großer Intensität fortgesetzt werden, sonst erleben wir 2035 angesichts der demografischen Entwicklung einen Kollaps. Das ist kein Thema, das sich für einen Parteienkrieg eignet. Es geht um die Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir leben?

Gibt es weitere Themen, bei denen Sie sagen: Hier hätte in den vergangenen 19 Jahren mehr passieren müssen?

Ja, beim Thema Entgeltgleichheit für Frauen. Es macht mich richtig sauer und auch traurig, dass ich das nicht auf den Weg gebracht habe. Als stellvertretende Fraktionsvorsitzende habe ich versucht, diese Ungerechtigkeit stärker in den Fokus zu rücken. Das ist mir aber nicht gelungen.

Gab es Entscheidungen in all den Jahren, in denen Sie sich gegen Ihre persönliche Überzeugung der Fraktionsdisziplin gebeugt haben?

Es gab mehrere Entscheidungen. Das ging schon los bei den ersten Einsätzen der Bundeswehr; ich habe mich damit sehr schwer getan. Es gab Abende und Nächte, an denen aus dem Büro direkt ins Kino gegangen bin, um erst einmal den Kopf freizukriegen. Heute würde ich vielleicht anders entscheiden. Ich mache auch keinen Hehl daraus, dass ich mit dem Betreuungsgeld große Probleme hatte. Ich habe bis zur Abstimmung dagegen gekämpft.

Hätten Sie sich eine Rückkehr in Ihren Beruf als Lehrerin vorstellen können?

Auf jeden Fall, ich habe das immer gerne gemacht. Nach der dritten Legislaturperiode im Bundestag wollte ich eigentlich aufhören. Damals war ich etwas über 50 und habe mir gesagt: Jetzt kannst Du noch zurück an die Schule. Die Partei hat mich gedrängt, erneut anzutreten. Und dann habe ich gesagt: Jetzt mache ich bis 60 weiter.

Sie gehen jetzt mit 60 Jahren in den Ruhestand, als normale Arbeitnehmerin müssten Sie noch knapp sechs Jahre arbeiten. Gleichzeitig werden in Ihrer Partei immer wieder Forderungen nach Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 70 Jahre laut. Wie vermitteln Sie es, dass Sie nun mit 60 Jahren in Rente gehen können?

Ich habe knapp 20 Jahre lang anders als jeder andere Arbeitnehmer gearbeitet. Die freien Wochenenden können Sie nachzählen. Ich habe das immer gerne gemacht. Das war aber kein Acht- oder Zehn-Stunden-Tag, das waren viel, viel mehr Stunden. Sie gehen morgens um halb sieben aus dem Haus und sind irgendwann gegen halb zwölf nachts wieder zuhause. Sie sind schnell bei 14, 15, 16 Stunden, dazu kommen noch die Wochenenden. Wir reden ja auch über Lebensarbeitszeitkonten! Sie können Politik nicht nach der Stoppuhr und mit der Stechuhr machen. Ich hatte mehr Jahresurlaub, als ich noch im Schuldienst war. Sie müssen sich einen dreiwöchigen Urlaub abknausern – und dann passiert noch etwas in dieser Zeit. Selbst wenn Sie privat unterwegs sind, sind Sie nicht privat. Ich kann nicht durch Herne gehen, ohne dass mich jemand anspricht. Und wenn ich ehrlich bin: Es macht mich ja auch stolz.

Spiegel Online hat jüngst unter der Überschrift „Sie werden noch von mir hören“ über die Pläne scheidender Bundestagsabgeordnete berichtet. Was werden wir von Ihnen noch hören?

Es gibt ja Themen, mit denen ich noch nicht „fertig“ bin. Hier werde ich weiter aktiv sein, wenn auch nicht mehr in Berlin. Es gibt viele Vereine und Verbände, die sich mit Themen wie Pflege oder Frauenpolitik beschäftigen. Und ich kann mir vorstellen, Kindern insbesondere Flüchtlingskindern Nachhilfe oder Deutschunterricht zu geben. Ich brauche aber keine repräsentativen Ämter mehr. Außerdem möchte ich nicht mehr in eine Abhängigkeit geraten, in der andere meinen Zeitplan bestimmen.

Ihr designierter Nachfolger Paul Ziemiak hat angekündigt, dass er den Herner Wahlkreis für die CDU gewinnen möchte, obwohl der Abstand zur SPD-Kandidatin Michelle Müntefering vor vier Jahren 18,3 Prozent betrug. Halten Sie das für realistisch?

Ja. Ich unterstütze ihn auch dabei, wir kämpfen um jede Stimme. Sie müssen sehen, wo ich angefangen habe: Zu Beginn betrug der Abstand zur SPD in Herne über 40 Prozent. Die Sicherheit für die SPD bröckelt, das stelle ich bei zahlreichen Veranstaltungen fest.

Begegnung mit Papst Benedikt

Die Begegnung, die mich am meisten beeindruckt hat …

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. © Unbekannt | WAZ





… war die Begegnung mit Papst Benedikt am 22. September 2011 im Deutschen Bundestag. Für mich war beeindruckend, als Katholikin den Papst dort zu erleben. Ich hatte damals auch noch die Möglichkeit, mich mit ihm auszutauschen. Ein tolles Erlebnis.

Eine Erfahrung, auf die ich gerne verzichtet hätte …

... war die Diskussion ums Betreuungsgeld.

Am meisten wird mir fehlen …

… Politik an der entscheidenden Stelle zu gestalten und zu beeinflussen.

Ich freue mich jetzt …

… auf meine Familie.

Richtig oder falsch? Angela Merkel wird 2021 bei der Bundestagswahl 2021 erneut kandidieren.

Das glaube ich persönlich nicht. Sie stünde aber bereit, wenn sie gebraucht würde.

Ein Jamaika-Bündnis – CDU, FDP, Grüne – wäre nach der Wahl meine Lieblingskoalition im Bund.

Das ist eine denkbare Koalition. Ich habe persönlich in der Großen Koalition immer sehr gut arbeiten können.

Frauen sind in der Politik gegenüber Männern …

… immer noch benachteiligt. Das müssen wir ändern!

Mein Lieblingskollege im Bundestag in 19 Jahren heißt …

… da gibt es einige – und zwar parteiübergreifend. In Herne war mein liebster Gesprächspartner immer Friedhelm Müller, der frühere Vorsitzende. Ohne ihn wäre ich nicht in den Bundestag gekommen. Er hat die Gunst der Stunde genutzt und aktive Frauenpolitik gemacht.

Gar nicht klar gekommen bin ich im Bundestag mit …

… dem Fraktionszwang, den es ja eigentlich gar nicht gibt.

INFO: ZUR PERSON

1990 ist Ingrid Fischbach in die CDU eingetreten, acht Jahre später zog sie über die Landesliste in den Bundestag ein. Zuvor hörte sie vier Jahre lang dem Rat an.

Von 1998 bis 2007 führte Fischbach die Herner CDU. Von 2010 bis 2012 war sie Mitglied des CDU-Bundesvorstands, von 2011 bis 2017 Chefin der Frauen-Union in NRW. 2009 wurde sie von der CDU-Bundestagsfraktion zur stellvertretenden Vorsitzenden gewählt. Seit 2014 ist sie Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium.

Vor dem Einzug in den Bundestag arbeitete sie als Lehrerin - zuletzt an der Erich-Fried-Gesamtschule. Ihr Abitur hatte sie am Gymnasium Eickel gemacht.

Ingrid Fischbach ist verheiratet und hat eine Tochter (36). Sie hat einen Enkelsohn (3), im Oktober wird sie zum zweiten Mal Oma.