Herne. Die vierte Coronawelle rollt. Prof. Santiago Ewig spricht im Interview über eine Impflicht und darüber, welche Maßnahmen er für angemessen hält.

In Deutschland - und damit auch in Herne - baut sich die vierte Coronawelle auf. Professor Santiago Ewig, Chefarzt der Klinik für Pneumologie und Infektiologie am evangelischen Krankenhaus in Eickel, erläutert im Gespräch mit WAZ-Redakteur Tobias Bolsmann, warum er eine Impfpflicht für wichtig hält und warum Masken im Freien unnötig sind.

Herr Professor Ewig, die Infektionszahlen steigen seit Wochen stark an. Deshalb die leicht provokante Frage: Hört Corona denn nie auf?

Ewig: Wir haben die Pandemie jetzt eineinhalb Jahre, und wir sehnen uns alle danach, dass sie aufhört, aber biologisch gesehen ist es keine lange Zeit. Es haben sich eben wiederholt neue Varianten gebildet, die sich sehr schnell durchgesetzt haben, zur Zeit herrscht Delta. Das ist aber nichts Überraschendes. Das ist bei Viren die Regel, dass sie mutieren und sich bestimmte Stämme durchsetzen.

Gibt es Hoffnung, dass sich eine Variante bildet, die einen leichteren Verlauf der Erkrankung nach sich zieht?

Das ist möglich. Was man nicht voraussagen konnte, war, wie viele Varianten kommen und wie infektiös sie sind. Vorhersagen sind weiterhin unsicher. Die Frage ist, wie viele Wellen und hochansteckende Varianten es noch geben wird. Die Pandemie wird irgendwann aufhören, allerdings nicht in dem Sinne, dass es das Virus nicht mehr gibt. Das wird sich vielmehr einreihen in die Gruppe der Viren, die endemisch sind, also nach bestimmten Mustern kursieren.

Also ähnlich wie die Grippe?

Ja. Im Moment sieht es danach aus, dass man eine Coronaimpfung immer wieder einmal wiederholen muss. Ob das wie bei der Grippe jährlich passieren muss, kann man noch nicht sagen. Wir wissen noch nicht genau, wie lange der Impfschutz bei Immungesunden hält.

Santiago Ewig, Pneumologe und Chefarzt am Thoraxzentrum Ruhrgebiet, in der vorgelagerten Patientenaufnahme im Augusta-Krankenhaus in Bochum.
Santiago Ewig, Pneumologe und Chefarzt am Thoraxzentrum Ruhrgebiet, in der vorgelagerten Patientenaufnahme im Augusta-Krankenhaus in Bochum. © FUNKE Foto Services | Olaf Ziegler

Wenn wir mit dem Virus leben müssen: Wie kann der Alltag in diesem Herbst und Winter aussehen?

Da stellt sich die Frage, was das Ziel der präventiven Maßnahmen ist. Am Anfang der Pandemie ging es darum, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten, speziell die Intensivstationen. Dieses Ziel wurde erreicht. Aktuell sehe ich nicht, dass ein klares Ziel definiert ist. Man kann die aktuell gültigen Maßnahmen so interpretieren, dass man so wenig wie möglich Infektionen entstehen lassen will. Das ist aus meiner Sicht problematisch, weil die Maßnahmen, die dafür nötig sind, sehr extrem sind. Man muss sich fragen, wie eine Alternative aussieht.

Und wie kann die nach Ihrer Meinung aussehen?

Man muss schauen, wer gefährdet ist. Die Älteren sind heute weitgehend sicher, sofern sie geimpft sind. Im Augenblick laufen Jüngere das höchste Risiko, sich zu infizieren. In dieser Gruppe sind jedoch schwere und tödliche Verläufe (auch bei Ungeimpften) ausgesprochen selten. Je jünger, umso seltener. Meine Antwort lautet daher: Ich wäre für die Pflichtimpfung bestimmter Berufsgruppen, zuallererst im Gesundheitswesen, in Schulen und Hochschulen oder auch zum Beispiel bei der Polizei. Also eine Impfung für alle, die sowohl ein erhöhtes Risiko für eine Infektion haben als auch in besonders empfindlichen Segmenten arbeiten. Ansonsten plädiere ich heute dafür, dass jeder sein Risiko selbst bestimmt. Wenn man sich impfen lässt, hat man einen hohen Schutz vor schwerer Erkrankung und einem tödlichen Verlauf, wenn man sich zusätzlich an die Hygieneregeln hält, hat man den höchstmöglichen Schutz, zumindest ist das jetzt geltende Überzeugung. Eine drohende Überlastung des Gesundheitssystems sehe ich momentan nicht. Die Infektionszahlen auf nahe null oder null senken zu wollen (No-COVID bzw. Zero-COVID-Strategien), scheint mir wenn überhaupt nur für einen Preis möglich, den wir alle nicht mehr zahlen wollen. Australien und Neuseeland sind ein abschreckendes Beispiel, und sie sind nicht einmal erfolgreich damit.

Sie hatten in einem Gespräch vor einem Jahr gesagt, dass gesellschaftliches Leben möglich sein muss. Damals lagen die täglichen Infektionszahlen bei etwa 1000. Gilt das für Sie weiterhin?

Das gilt unverändert, und es gilt vor allem für die Jugendlichen an den Schulen und Hochschulen. Dort sind schon enorme Probleme entstanden, und die werden immer größer. Es muss auf jeden Fall aufhören, dass regulärer Unterricht de facto nicht stattfindet. Online-Unterricht an Schulen und Hochschulen kann eine gute Ergänzung sein, aber niemals Ersatz für Präsenzunterricht. Aktuell sind wir dabei, eine ganze Generation zu ruinieren. Ein Schüler oder ein Student kann die Schutzmaßnahmen einhalten oder sich zusätzlich impfen lassen und in der Folge mit einem sehr geringen Risiko für eine vital bedrohliche Erkrankung leben.

Können wir demnach heute gelassener mit der Situation umgehen?

Wir können heute insgesamt gelassener sein, weil die Situation eine andere ist als vor einem Jahr. Wir haben die Impfung, die uns vor einer unkontrollierbaren Situation bewahrt. Das einschlägige Gegenargument lautet, dass weitere, viel schlimmere Mutationen drohen, gegen die die Impfung weniger oder gar nicht wirksam sein könnte. Doch wir können unser Leben nicht danach ausrichten, was vielleicht noch alles passieren könnte.

Der Verzicht auf einen Handschlag wäre für Prof. Santiago Ewig kein großer Verlust. Er hält es für inakzeptabel, wenn die Menschen auf Dauer mit Masken herumlaufen würden.
Der Verzicht auf einen Handschlag wäre für Prof. Santiago Ewig kein großer Verlust. Er hält es für inakzeptabel, wenn die Menschen auf Dauer mit Masken herumlaufen würden. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Können wir im gesellschaftlichen Leben nicht langsam wieder zum Handschlag zurückkehren?

Wir könnten. Der dauerhafte Verzicht auf einen Handschlag wäre allerdings kein großer kultureller Verlust, ich halte es aber für absolut inakzeptabel, wenn die Menschen auf Dauer mit Masken herumlaufen. Eine offene Kommunikation ist nur möglich, wenn sich die Menschen von Angesicht zu Angesicht begegnen.

Wie genau ist SarsCov2 bzw. COVID inzwischen wissenschaftlich analysiert worden?

In der Tat gibt es eine überwältigende Zahl an Publikationen. Ob alle immer so gehaltvoll waren, ist eine andere Frage. Der größte Fortschritt ist und bleibt die Impfung. Dass diese in so kurzer Zeit entwickelt werden konnte und so einen hohen Schutz bietet, ist spektakulär. Ein gut wirksames antivirales Mittel ist allerdings noch nicht in Sicht.

Sie sind am EvK in Eickel und am Augusta-Krankenhaus in Bochum tätig: Wie stellt sich die vierte Welle in den Krankenhäusern dar?

Wir haben Ungeimpfte, auch noch ältere, die einen schweren Verlauf haben. Dann gibt es die ungeimpften Jüngeren und die Geimpften jeden Alters, die seltener einen schweren Verlauf nehmen, zumindest seltener einer intensivstationären Behandlung bedürfen. Jene, die sich trotz Impfung infizieren, erkranken, wenn sie erkranken, meist nicht so schwer. Die Situation in den Krankenhäusern spiegelt also das Risiko der hochinfektiösen Delta-Variante einerseits und die veränderten Risikosituation durch die Impfung andererseits. Die Ergebnisse der Impfstudien haben sich bestätigt: Die Schutzwirkung gegen die Entwicklung eines schweren Verlaufs ist sehr hoch, etwa 95 Prozent. Während die Schutzwirkung gegen eine Infektion deutlich geringer ist. Infektionen trotz Impfung sind also nicht so selten.

Wenn Sie mit Nicht-Geimpften sprechen, die sich infiziert haben, welche Gründe nennen diese, dass sie sich nicht haben impfen lassen?

Zum Teil gibt es falsche Vorstellungen. Und es gibt Menschen, die wollen die Impfung einfach nicht. Das hat mit Angst vor Nebenwirkungen zu tun, das höre ich eher bei Jüngeren. Andere glauben, sie schaffen es mit einem gesunden Immunsystem. Diese Personen haben in der jetzigen Situation ein hohes persönliches Risiko gewählt, sich zu infizieren, weil mit der Deltavariante eine Ansteckung sehr wahrscheinlich ist.

Welche Maßnahmen bieten, neben der Impfung, den sichersten Schutz?

Dazu muss man wissen, wie das Virus übertragen wird. Zunächst haben wir gedacht, dass es, wie bei der Grippe, über grobe Tröpfchen übertragen wird. Dann hätte man die Pandemie recht gut in den Griff bekommen. Deshalb haben wir Masken aufgesetzt und die Abstandsregel etabliert. Doch die Übertragung findet maßgeblich über Aerosole statt, also kleine und leichte, daher im Raum schwebende sogenannte Tröpfchenkerne. Sie entspricht der Übertragung zum Beispiel der Windpocken. Daraus folgt: Je kleiner der Raum, je mehr Personen im Raum, je weniger Luftaustausch, umso höher ist das Risiko. Ein ungelüfteter Raum ist auch dann, wenn ein Infizierter den Raum verlassen hat, weiterhin ein Risiko. Das verändert den Stellenwert der Hygienemaßnahmen, vor allem der Masken. Bei medizinischen Masken oder FFP-Masken ist klar: in Innenräumen, richtig getragen, haben sie eine Schutzwirkung. Sehr viel unklarer ist das im Freien. Es gibt bis heute keine einzige belastbare Studie, die belegt, dass Masken im Freien eine Schutzwirkung haben. Die Gefährdung geht von Innenräumen aus. Das sollte für das öffentliche Leben eine wichtige Erkenntnis sein.

Die Stadt Herne bietet die Impfung von Kindern ab zwölf Jahren an. Wie beurteilen Sie dieses Angebot?

Ich bin skeptisch. Mit einer Impfung in diesem Alter zielt man weniger auf den Schutz der Gesundheit der Kinder, sondern eher auf die Durchbrechung der Epidemie. Die Situation in Deutschland und Europa scheint mir aktuell aber nicht so dramatisch, dass eine Impfung in dieser Absicht angemessen erschiene. Andererseits ist eine Impfung immer dann gerechtfertigt, wenn der drohende Schaden für das Individuum größer ist als eine Impfnebenwirkung. Das ist etwa für die Kinderkrankheiten, gegen die heute geimpft wird, eindeutig der Fall. Bei den unter 18-Jährigen ist eine Impfung gegen Corona dagegen aufgrund des minimalen Risikos einer schweren Erkrankung zweifelhaft. Natürlich sind die Impfnebenwirkungen auch in dem Alter sehr selten, aber es gibt sie eben, und sie sind mitunter nicht gerade harmlos, deswegen meine ich, dass es eine individuelle Entscheidung bleiben muss, ob ein unter 18-Jähriger geimpft werden sollte. Ich finde es richtig, dass man die Impfung anbietet, doch das gesellschaftliche Klima ist im Moment so, dass sehr schnell aus dem Angebot ein gewisser Zwang entstehen kann. Wer sich gegen eine Impfung entscheidet, wird vielleicht schräg angeschaut.

Könnte eine „Nebenwirkung“ darin bestehen, dass sich Eltern, die vielleicht noch nicht geimpft sind, intensiver mit dem Thema beschäftigen?

Das wäre eine sehr gute „Nebenwirkung“. Erwachsene sollten sich auf jeden Fall impfen lassen. Je höher das Lebensalter, umso dringlicher. Wir haben leider genug schwere und tödliche Verläufe in unseren Krankenhäusern erlebt, wir haben sie trotz maximaler Anstrengung nicht verhindern können. Ein schweres COVID ist eine furchtbare Erkrankung.

>>> ZUR PERSON

■ Professor Santiago Ewig ist Chefarzt der Klinik für Pneumologie und Infektiologie am evangelischen Krankenhaus in Eickel. Die Klinik ist Teil des Thoraxzentrums Ruhrgebiet mit den Standorten Eickel und Augusta-Krankenhaus in Bochum.

■ Die Klinik ist von der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie als Zentrum für Klinische Infektiologie zertifiziert.