Herne. Vor 100 Jahren ereignete sich auf der Zeche Mont-Cenis das schwerste Grubenunglück in Herne. Heute wird die Erinnerung oft romantisiert.

„Kurz vor zwölf Uhr hörte ich einen dumpfen Knall. Es folgte ein orkanartiger Sturm, der selbst große Steine wegschleuderte. Zusammen mit meinem Kumpel versuchte ich, zwischen giftigen Rauchschwaden einen Weg in die Freiheit zu finden“: Das berichtete ein Bergmann, der dem Inferno in Herne unter Tage entronnen war.

Eine Schlagwetterexplosion löste am Montag, 20. Juni 1921, auf der Zeche Mont-Cenis eine Detonation aus, dessen Erdstoß in ganz Sodingen spürbar war. Das Unglück forderte 85 Todesopfer. Noch tagelang standen an der Leichenhalle einige Särge mit verbrannten Leichen offen, da nicht alle Verunglückten identifiziert werden konnten.

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Die spätere Untersuchung der Bergbaubehörde ergab, dass ein Schießhauer trotz Verbots mit einer Ladung Dynamit Kohlen losgeschossen hatte. Daraufhin entzündete sich das Grubengas und verwandelte die Flöze Gretchen und Matthias in eine Gluthölle. Menschliches Versagen war also die direkte Unglücksursache, aber schon der Herner Anzeiger merkte an: „Wenn man sich mit erfahrenen Bergleuten über die Ursachen unterhält, dann scheinen diese vielmehr an dem System zu liegen, mit dem heute im Kohlenbergbau gearbeitet wird: Kohle, Kohle, Kohle, so heißt die Parole.“

100 Grubenunglücke in Herne und Wanne-Eickel

Tatsächlich ist die Geschichte des Bergbaus auch eine Geschichte der Grubenunglücke. Allein 100 werden für die Bergreviere Herne und Wanne-Eickel verzeichnet. Darüber hinaus starben unzählige Kumpel bei den statistisch nicht erfassten zahlreichen tödlichen Unfällen unter Tage oder wurden von der Silikose, der Steinstaublunge, dahingerafft.

Michael Farrenkopf, stellvertretender Direktor des Deutschen Bergbau-Museums Bochum.
Michael Farrenkopf, stellvertretender Direktor des Deutschen Bergbau-Museums Bochum. © Helena Grebe

„Aufgrund des hohen Risikopotentials des Steinkohlenbergbaus war es unter Tage alternativlos, den Gefahren für Leib und Leben gemeinschaftlich zu trotzen und dazu auch migrantische Sprachbarrieren zu überwinden“, stellt Michael Farrenkopf fest. Für den stellvertretenden Direktor des Deutschen Bergbau-Museums Bochum hat diese viel beschworene Solidarität der Kumpel die Mentalität der Region nachhaltig geprägt, denn die Notwendigkeit zum Gemeinschaftssinn setzte sich in den Bergarbeitersiedlungen bei kargen Lohnverhältnissen und einem harten Klassengegensatz fort. „All dies war aber weder schön noch harmonisch, schon gar nicht romantisch“, resümiert Farrenkopf.

Herner Verein hat 63 Mitglieder und 19 Witwen

In den schwarzen Tagen des Reviers war vielen Bergleuten (oder Bergarbeiterfrauen) trotz eines stolzen Berufsethos das destruktive Wesen des Kohlenbergbaus bewusst. „Zu Hause waren wir drei Jungens und mein Vater arbeitete auf Mont-Cenis. Aber zu uns sagte er: ‚Keiner geht ins Loch!‘. Er wollte nicht, dass wir Bergmänner werden“, erzählt Wilfried Kruppa. 1962 begann er eine Lehre als Maschinenschlosser beim Bergbauzulieferer Beien.

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Das Milieu des Pütts blieb aber an ihm haften. „Wir hatten eine Werkswohnung direkt neben dem Eingang der Zeche und in Sodingen drehte sich ja alles um ‚Monscheini‘.“ Heute ist er als Nicht-Bergmann erster Vorsitzender des Bergmanns-Unterstützungs-Vereins Herne-Sodingen von 1885. „Unser Verein hat noch 63 Mitglieder und 19 Witwen, dazu noch ein hohes Durchschnittsalter. Es ist absehbar, dass es uns bald nicht mehr geben wird“, so Kruppa.

Wilfried Kruppa, erster Vorsitzender des BUV Herne-Sodingen im Bergmannskittel vor der Akademie Mont-Cenis.
Wilfried Kruppa, erster Vorsitzender des BUV Herne-Sodingen im Bergmannskittel vor der Akademie Mont-Cenis. © Ralf Piorr

Bergbau wird von junger Generation romantisiert

Die Zeit der Kohle im Ruhrgebiet ist vorbei. Mit „Pott-Kekse“, „Steigerbrot“ und „Grubenmann“-Kaffeetassen breitet sich eine nostalgische Pott- und Kumpelromantik aus, die die sozialen Kosten einer für Mensch, Natur und Klima zerstörerischen Rohstoffgewinnung völlig ausblendet. Angesichts dieser Romantisierung setzt Michael Farrenkopf auf das museale Korrektiv: „Natürlich beinhaltet diese Mode eine enorme historische Verkürzung, aber das Ruhrgebiet ist so reich an industriekulturellen Bildungsstätten wie keine andere vormalige Montanregion der Welt. Und das schließt ein umfassendes Angebot an kritischer Geschichtsschreibung zur Bergbau-Vergangenheit ein.“

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Ansonsten rät er eher zur Gelassenheit: „Der Schriftsteller Frank Goosen hat einmal gesagt: ‚Das Ruhrgebiet hat sich das Recht erarbeitet, sich hemmungslos zu stilisieren und sich zu dem zu bekennen, was es einzigartig macht: nämlich die Arbeit.‘ Darin liegt viel Wahres. In diesem Sinn kann ich auch diese Merchandise-Artikel akzeptieren. Und zwar als das, was sie sind: reine Souvenirs.“

Am Sonntag werden also ein paar alte Männer mit Schachthut, Federbusch und im schwarzen Bergmannkittel auf dem Friedhof in Holthausen stehen und an die Opfer des Bergbaus erinnern. Ihre Enkel sitzen derweil im „Grubenhelden“-T-Shirt „100% Ruhrverliebt“ am Kanal und trinken „Ruhrpott-Kohla“. So ist die Gegenwart, 100 Jahre nach dem Unglück auf Mont-Cenis.

>>>Gedenkfeier auf dem Holthauser Friedhof

Am Sonntag, 20. Juni, um 11 Uhr, findet auf dem Holthauser Friedhof eine Gedenkfeier statt. Bezirksbürgermeister Mathias Grunert wird im Namen der Bezirksvertretung Sodingen an der Gedenkstätte für die Opfer von Mont-Cenis einen Kranz niederlegen. Die Bergmannsunterstützungsvereine des Herner Ringes haben ihre Teilnahme zugesagt.

In kurzen Redebeiträgen werden die Superintendentin des Evangelischen Kirchenkreises Claudia Reifenberger und der Historiker Ralf Piorr an die Geschehnisse erinnern.

Zur Erinnerung an das Grubenunglück hat das Emschertal-Museum der Stadt Herne einen Kurzfilm produziert: www.emschertal-museum.herne.de Dort unter: Mediathek. Oder auf dem youtube-Kanal der Stadt Herne.