Herne. Über die Attraktivität der Herner City gibt es stetig Diskussionen. Ein Experte erläutert, welche Kriterien über eine Neueröffnung entscheiden.
Immer wenn die Herner WAZ in vergangenen Jahren und Monaten über Veränderungen im Herner Einzelhandel berichtet hat, entbrannte unter den Lesern eine heiße Diskussion über die Attraktivität der Bahnhofstraße und Hauptstraße. Oft verbunden mit dem Wunsch nach bestimmten Händlern. Doch nach welchen Kriterien wird über einen neuen Standort entschieden? Und wie werden sich Innenstädte nach der Corona-Pandemie und angesichts der Internet-Konkurrenz entwickeln? Antworten darauf kennt der Experte für Einzelhandelsimmobilien Gisbert Schneider.
Für Neuansiedlungen gibt es eine Reihe von Kriterien
Der von den Lesern (und Facebook-Freunden der Herner WAZ) am häufigsten geäußerte Wunsch ist der nach einem Elektronikhändler - also Mediamarkt oder Saturn. Doch ist das realistisch? Leider nein, sagt Gisbert Schneider. Der Grund: MediaMarkt/Saturn will einen Kannibalisierungseffekt vermeiden. Der Konzern habe festgestellt, dass die Eröffnung in Herne keinen Sinn machen würde. Man sei mit einem dichten Filialnetz in direkter Umgebung bereits so stark vertreten, dass die bestehen Filialen in Bochum, Gelsenkirchen, Recklinghausen und Castrop-Rauxel durch eine Neueröffnung in Herne geschwächt würden.
Grundsätzlich gebe es folgende Kriterien, die bei einer möglichen Eröffnung eines Standorts - nicht nur in Herne - für ein Einzelhandels-Unternehmen eine Rolle spielen: die Lage in einer Stadt, Lage der Stadt selbst, die Nähe zur nächsten eigenen Filiale, die An- oder Abwesenheit von Wettbewerbern, die Größe des Ladenlokals, die Höhe der Miete und Kaufkraft einer Stadt.
Schneider nennt ein paar Beispiele: „Einem der großen deutschen Outdoor-Unternehmen liegen über den eigenen Onlinehandel die Kundendaten inklusive Umsätze pro Stadt vor. Diese werden zusammen mit Einzelhandelskennziffern wie Kaufkraft und Pro-Kopf-Umsatz in einem individuellen Städte-Attraktivitäts-Ranking verarbeitet. Diese dezidierte Geodaten-Rangliste ist erst mal die Basis für dieses Unternehmen, ob man überhaupt erst mal anfängt, sich über die Eröffnung eines eigenen Stores in der jeweiligen Stadt Gedanken zu machen.“
So wichtig ist die Lage
Schneider nennt auch die Vorgaben eines großen Textil-Unternehmens. Grundvoraussetzung für eine mögliche Ansiedlung sei die Größe einer Stadt. Städte mit mehr als 100.000 Einwohner seien im Rennen, was dann auch für Herne zuträfe. Doch im dicht besiedelten Nordrhein-Westfalen habe das Unternehmen die Hürde höher gelegt - auf 200.000 Einwohner. Damit ist Herne kein Kandidat mehr.
Für den Handel gibt es ja den schönen Spruch, dass drei Dinge wichtig sind: Lage, Lage - und Lage. Das wird von Einzelhandelsunternehmen teilweise extrem umgesetzt, weiß Schneider. Es gebe Expansionsverantwortliche, die vor Ort auf die Hausnummer genau vorgeben, ob die Lage noch für eine Ansiedlung taugt. Gebe es ein freies Ladenlokal nur eine Hausnummer jenseits des festgelegten Bereichs, werde sich das Unternehmen nicht ansiedeln. Auch bei der Größe der Ladenlokale würden teilweise genaue Vorgaben gemacht. Passt der Grundriss nicht genau in diesen Rahmen, werde es keine Neueröffnung geben.
Konkurrenz und Bauchgefühl
Das ist übrigens auch eine Erfahrung, die auch Hernes Wirtschaftsförderer Holger Stoye immer wieder macht. Es gebe durchaus Anfragen von Unternehmen für Herne, aber auch für die Hauptstraße in Wanne-Eickel. Doch es fehlten die für die Anfragen passenden Ladenlokale.
Ein weiterer geflügelter Spruch: Konkurrenz belebt das Geschäft. Gisbert Schneider weiß, dass er beispielsweise auf die Modebranche zutreffe. Doch Buchhandlungen würden sich konsequent aus dem Weg gehen.
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Schneider nennt weitere Kriterien - wie das persönliche Netzwerk. Expansionsmanager - die für neue Standorte verantwortlich sind - würden sich überraschend offen untereinander über die Umsätze an den jeweiligen Standorten austauschen. Für viele Städte lägen den Expansionsverantwortlichen bereits ausreichend Erfahrungswerte vor. „Falls es in einer Branche fünf relevante Filialisten gibt, zwei bereits vor Ort vertreten sind, die aber mit den Umsatzzahlen nur mäßig zufrieden sind, wird ein dritter sich dort nicht ansiedeln“, so Schneider.
Auch das Bauchgefühl spiele eine Rolle. Falls in einer Fußgängerzone ein Ladenlokal in der richtigen Größe, in der passenden Lage zu einem akzeptablen Mietpreis angeboten werde und die Eckdaten der Stadt stimmten, folge die individuelle Prüfung vor Ort. Der Expansionsentscheider des Unternehmens besuche an verschieden Tagen zu verschiedenen Uhrzeiten die Innenstadt und schaue sich die Passanten an. Dabei stehe die Frage im Vordergrund: „Ist hier unsere typische Zielgruppe ausreichend unterwegs?“
Der Einfluss der Stadtverwaltungen
All diese Kriterien deuten darauf hin, dass Stadtverwaltungen nur einen gewissen Einfluss auf Neuansiedlungen von Geschäften haben. „Die Kommunen werden sich mehr um ihre Einkaufsstraßen kümmern müssen“, so Schneider. Sie würden zu oft von Schließungen oder Neueröffnungen überrascht. Die Forderung werde immer lauter, dass eine Einkaufsstraße genauso gemanagt werden sollte wie ein Vermietungsmanager dies in einem Shopping-Center macht. Eine Aufgabe wäre es, von allen Händlern die Dauer der Mietverträge zu kennen. Hintergrund: Ein Jahr vor Ende des Mietvertrags könne ein Vermietungsmanager einen Dialog zwischen Immobilienbesitzer und Mieter in Gang bringen, um zu ermitteln, unter welchen Bedingungen der Vertrag fortgesetzt werden kann.
Blickt man auf den Faktor Kaufkraft, so liegt Herne damit sicher nicht in der Spitzengruppe. Ein Stück weit ändern könnten dies die Neubaugebiete rund um die City: Stadtgarten, Knipping-Dorn, Horsthauser Straße später auch Grenzweg (Herdfabrik). Für Schneider ist dies eine richtige Strategie: „Umso mehr Menschen in der Innenstadt wohnen und auch arbeiten, umso attraktiver ist diese auf jedem Fall für Einzelhandel- und Gastronomieunternehmen.“
Schneider: Innenstädte werden sich in Folge der Pandemie verändern
Aber wie werden sich die Innenstädte nach der Pandemie verändern? Im Wandel seien sie schon vorher gewesen, so Schneider - durch den Onlinehandel, aber auch Outlet-Center. Der Schrumpfungsprozess des innerstädtischen Einzelhandels werde erst aufgehalten, wenn der Einzelhandel es schaffe, sein komplettes Sortiment digital sichtbar zu machen. Das heißt: Wenn man zukünftig mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie bei Amazon oder Zalando dann bei einer Plattform kauft, die online das gesamte Sortiment des stationären Handels anbietet, so Schneider. Doch dies sei Zukunftsmusik.
Nach Schneiders Einschätzung werden die Innenstädte nicht sterben, sie werden sich verändern. Es werde nie wieder so viel Einzelhandelsfläche benötigt wie in der Vergangenheit. Um diesen Prozess positiv zu gestalten, müssten Städte ihn aktiv steuern. Die Innenstädte müssten attraktiver, vielfältiger und erlebnisreicher werden. Wichtig sei, die Lebensqualität wieder mehr in den Mittelpunkt zu rücken. Innenstädte müssten mehr als uniformierte Fußgängerzonen mit den üblichen Verdächtigen an Filialisten sein.
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>> EINZIGARTIGE DIENSTLEISTUNG
■ Gisbert Schneider bietet mit seinem Unternehmen „Schneider + Straten“ in Düsseldorf eine nach eigenen Angaben einzigartige Dienstleistung. Schneider+Straten berät diejenigen, die regional oder bundesweit tätige Filialisten als Mieter für Einzelhandelsflächen suchen.
■ „Wir analysieren, wer als Mieter theoretisch in Frage kommt und liefern unseren Kunden die Kontaktdaten dieser Filialisten.“
■ Dafür untersucht Schneider+Straten seit 2012 die Expansion der 2000 regional oder bundesweit aktiven Filialisten, die in Deutschland Mieter von Einzelhandelsflächen sind.
■ In den vergangenen zwei Jahren hat Gisbert Schneider die Stadt Herne im Rahmen des Projekts „Wanne 2020+“ beraten.