Hattingen. Regelmäßig Essen verteilen Helfer von „Niederwenigern hilft“ aus Hattingen an Obdachlose und Mittellose. Und blicken hinter bewegende Schicksale.
Der „Engel“ und die „Glücksfee“ werden schon erwartet am Bochumer Bahnhof. Hier, am Hinterausgang des Gebäudes, haben sich an diesem Abend wieder rund zwei Dutzend Frauen und Männer versammelt. Obdachlose, Mittellose, Hoffnungslose, denen Michael Dommermuth (58) und Martina Rogalla (61) von der Initiative „Niederwenigern hilft“ aus Hattingen einmal wöchentlich etwas Warmes zu essen geben – und menschliche Wärme. Engel und Glücksfee nennen einige der Wartenden sie daher.
Eine vegetarische Linsensuppe hat der gelernte Koch Michael Dommermuth für diesen Abend zubereitet, dazu gibt’s Bockwürstchen. Aber auch Bananen und ein paar Süßigkeiten haben er und Martina Rogalla heute in seinem roten Nissan mitgebracht, rasch bildet sich hinter dem Kofferraum des Pkw zur Essensausgabe eine Schlange.
Eine Bedürftige sagt: „Diese Leute hier haben einfach ein Herz für uns“
Auch Christiane reiht sich in diese ein. „Diese Leute hier“, sagt sie und zeigt auf Michael und Martina, „haben einfach ein Herz für uns. Wenn es sie nicht gäbe, dann sähe es für uns alle hier noch viel schlechter aus.“ Rentnerin sei sie, erzählt die 70-Jährige, habe jahrzehntelang gearbeitet. Doch das Geld, das ihr dafür zusteht, reicht nicht zum Leben. Wo sie lebt, wie sie lebt? Lässt die Frau offen.
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Auch Birgits aktuelle Situation bleibt im Vagen. Nur, dass sie in einer Notunterkunft schläft, verrät die 59-Jährige, die all ihr Hab und Gut in einem Einkaufswagen mit sich führt. Und dass das Leben auf der Straße als Frau besonders schwer ist. Dann sagt sie noch: „Danke, dass Sie uns zuhören.“
Michael Dommermuth und Martina Rogalla hören bei ihrem Besuch am Bochumer Bahnhof und später am Abend in der Hagener Innenstadt, wo weitere Bedürftige schon sehnsüchtig auf sie warten, dabei jedem, der das Gespräch mit ihnen sucht, zu. Immer.
Schicksale der Menschen am Rande der Gesellschaft lassen Hattinger nicht mehr los
Seit Martina Rogalla, die sich schon länger für Obdachlose und Mittellose engagiert, ihren Freund Michael und dessen Mann Frank Pieper vom „Alten Gasthof“ in Niederwenigern Anfang 2021 die Szene am Bochumer Bahnhof gezeigt hat, lassen auch den 58-Jährigen die Schicksale dieser Menschen am Rande der Gesellschaft nicht mehr los. Seitdem kümmern sie sich als Initiative zusammen mit vier weiteren Mitstreiterinnen um Birgit, Christiane und Co.
Das ist die Initiative „Niederwenigern hilft“
„Niederwenigern hilft“ ist eine Initiative, kein Verein. An gehören dem Team – laut Michael Dommermuth „eine Gruppe, die es gut meint“ – insgesamt sechs Personen.
„Niederwenigern hilft“ unterstützt dabei Obdachlose und Mittellose mit Essen, aber auch Kleidung und organisatorischer Hilfe. Das Essen, das an Bedürftige ausgegeben wird, bezahlt die Initiative überwiegend aus Geldgeschenken, aber auch Sachspenden für die Bedürftigen nimmt diese an.
Einmal wöchentlich donnerstags werden der Bochumer Hauptbahnhof, die Hagener Innenstadt, Obdachlosen-Plätze in Gevelsberg und Wuppertal angefahren.
„Niederwenigern hilft“ kooperiert mit dem Verein „Lichtschmiede“ aus Gevelsberg, der sich um Obdachlose, einsame Menschen und bedürftige Familien kümmert.
Bis zum Sommer 2022 hatte „Niederwenigern hilft“ auch Menschen in der Unterkunft an der Werksstraße in Hattingen mit Essen und anderem versorgt, dieses Engagement nach einem Zwischenfall indes eingestellt.
Kontakt zur Initiative über Michael Dommermuth: Tel. 0160/ 6421464.
„Wir haben nach unseren Vor-Ort-Besuchen schon öfter danach zusammen im Auto gesessen und hemmungslos geweint“, gesteht Michael Dommermuth.
Wenn ihnen zum Beispiel Oliver (48) gesteht, dass er von seiner Alkoholsucht nicht losgekommen ist, irgendwann dann Job und Familie und nun auch noch die Wohnung verloren hat. Wenn eine 91-Jährige erzählt von ihrem Dasein auf der Straße. Wenn eine vierfache Mutter ihnen sagt, sie habe ihre Kinder weggegeben, damit diese rauskämen aus der Armutsspirale, in der sie selbst gefangen ist. Und vieles andere mehr. „Wir versuchen aber, jedem immer zu helfen, so gut es geht“, sagt Martina Rogalla.
Michael Dommermuth von „Niederwenigern hilft“ schenkt Dirk Turnschuhe
Dirk (55) etwa haben sie an diesem Abend zwei Paar Turnschuhe mitgebracht, Größe 47. Ein persönliches Geschenk von Michael Dommermuth. Dirk lächelt, in diesem einen Moment wirkt er richtig glücklich. Er umarmt erst Martina, dann Michael. Und sagt anschließend, eine Schüssel mit Linsensuppe in der rechten Hand, eine Bierflasche vor sich auf dem Boden, leise, aber unüberhörbar: „Danke.“
Von Hartz IV lebe er, erklärt der 55-Jährige, gearbeitet habe er nie. Schon in jungen Jahren sei er an falsche Freunde geraten, er habe insgesamt mehr als drei Jahrzehnte im Gefängnis gesessen, sei alkohol- und drogenabhängig. „Zum Glück lebe ich aber nicht auf der Straße.“ Die kleine Wohnung, sein Zuhause, hat „Niederwenigern hilft“ ihm vermittelt. Ob er Träume hat, Zukunftspläne? Dirk guckt in die Ferne, sagt kurz etwas von „was alle so wollen: in den Urlaub fahren, schön essen“. Doch dann schüttelt er den Kopf – als ahne er, wie weit weg das alles für ihn ist. Und sagt: „Was soll ich mir schon noch wünschen bei diesem Leben? Einen schnellen Tod. . .“
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„Für mich“, sagt Michael Dommermuth, „ist ,Niederwenigern hilft’ eine Herzensangelegenheit.“ Martina Rogalla nickt. „Sonst“, sagt sie, „könnte man das auf Dauer auch wirklich nicht machen.“
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