Hattingen. In der Corona-Zeit nehmen psychische Probleme bei Kindern und Jugendlichen in Hattingen zu, so Kinderärztin Antje Erencin. Sie gibt Eltern Tipps.

In der Corona-Zeit ist auch in Hattingen die Zahl der Kinder, die unter einer psychischen Belastung leiden, gestiegen, stellt Dr. Antje Erencin fest. Sie ist Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin sowie Psychotherapeutin für Kinder- und Jugendliche. Häufiger stellt sie in der Corona-Zeit auch die Diagnose Adipositas, also Fettleibigkeit.

„Die soziale Isolation, die fehlenden Kontakte und die unklare, angstvolle Situation, die Kinder und Jugendliche durch ihre Eltern fühlen, lösen diese psychische Belastung aus“, weiß Antje Erencin. Es fehle den Kindern und Jugendlichen – wie Erwachsenen auch – an Abwechslung.

Kinderärztin: Corona belastet Kinder und Jugendliche in Hattingen psychisch

Ihre psychotherapeutischen Akutsprechstunden jedenfalls sind immer gut besucht. „Die biete ich aber nur für die Patienten unserer Praxis an“, betont sie. Sie empfiehlt Eltern, auf jeden Fall zu ihrem Kinderarzt zu gehen, wenn sie in Sorge sind, weil ihr Kind beispielsweise traurig wirkt, sich zurückzieht, weniger spricht – oder aber auch aggressives Verhalten zeigt.

Sie vermutet, dass psychosomatische Probleme bei Kindern und Jugendlichen weiter zunehmen, wenn „die Anforderungen wieder höher werden“. Wenn sie also wieder täglich im Vor-Corona-Stundenumfang zur Schule gehen. Manche haben eine Schulangst entwickelt – wegen des Leistungsdrucks, aber auch, weil sie nach der langen Zeit der Isolation das soziale Miteinander fürchteten.

Eltern sind aktuell alle sehr belastet

Fast alle Eltern erlebt Antje Erencin, die in gutem Austausch ist mit der zweiten Kinderarztpraxis in der Stadt, der Gemeinschaftspraxis Dr. Nina Brockhaus und Sabine Backendorf, aktuell als sehr belastet. Viele wüssten oft gar nicht, wie sie mit ihren Kindern spielen und Zeit verbringen sollten. Andere Eltern wiederum hätten die Sorge, nicht genug mit ihren Kindern zu machen – oder das Homeschooling nicht gut zu begleiten. „Sie meinen oft, sie machen es nicht gut genug, und haben hohe Ansprüche an sich selbst.“

Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen

„Familie.Freunde.Follower“ heißt eine Kampagne der Drogenbeauftragten der Bundesregierung. Auf der Homepage heißt es, dass während der Corona-Pandemie Kinder und Jugendliche 75 Prozent mehr mit dem Smartphone oder PC spielen als vor der Krise, um ihre Langeweile zu bekämpfen oder sich abzulenken. Dabei werde die Grenze zum gesunden Umgang mit digitalen Medien zunehmend überschritten. Die Kampagne soll Medienkompetenz stärken. Der neue Film „Tobi Krell erklärt Mediensucht“ mit dem als „Checker Tobi“ bekannten Moderator sei ein wichtiger Baustein in der Aufklärung und Prävention rund um das Thema Medienabhängigkeit. Informationen im Internet unter www.drogenbeauftragte.de/familiefreundefollower/

Der Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte sagt, dass Familien beim Medienkonsum klare, vereinbarte Regeln brauchen. Auf jeden Fall sollten Eltern ihre Kinder bei der Mediennutzung altersgerecht begleiten und über Inhalt und Ausmaß der Mediennutzung ihrer Kinder informiert sein. Besonders wichtig für das gesunde Aufwachsen: Je kleiner die Kinder sind, desto größer sollte der bildschirmfreie Raum in ihrem Leben sein. Bei Säuglingen und Kleinkindern unter drei Jahren sollten Bildschirmmedien nicht zum Einsatz kommen.

Es gibt für Kinder und Jugendliche von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung einen Selbsttest zur Videospielsucht und zur exzessiven Internetnutzúng auf www.beratung.ins-netz-gehen.de/check-dich-selbst/bin-ich-suechtig

Erencin lobt ausdrücklich: „Die Eltern und Lehrer geben sich große Mühe, aber die pandemiebedingte Situation ist für alle – Kinder, Lehrer und Eltern – sehr schwierig.“ Für viele Kinder sei schon der Besuch in der Praxis ein Event.

TIpps der Kinderärztin für die Eltern

Antje Erencins Empfehlung: Mit den Kindern zum Beispiel hinaus in die Natur zu gehen. Hört sich einfach an, ist aber nicht selbstverständlich, weiß sie aus Erfahrung. „Einfach mal mit dem Bus bis zur Endhaltestelle fahren und ab in den Wald“, nennt sie ein Beispiel. Ein strukturierter Tagesablauf sei wichtig. Und: Gesellschaftsspiele spielen, zusammen malen, vorlesen.

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Denn: Der Medienkonsum vieler Kinder sei gestiegen, viel Zeit verbringen sie mit Online-Spielen und Co., Sportvereine könnten kein Training anbieten. Sie spricht gar von einer „Medienverseuchung“ zahlreicher Kinder. „Viele Kinder sind dicker geworden, Adipositas nimmt zu. Ich bin gespannt, ob sie wieder abnehmen.“

Lebensqualität und Bildungsmöglichkeiten von Kindern sind eingeschränkt

Erencin sagt klar: „Die Kinder bringen in der Gesellschaft ein großes Opfer. Sie sind kaum gefährdet, schwer an Corona zu erkranken, aber erheblich in ihrer Lebensqualität und in ihren Bildungsmöglichkeiten eingeschränkt – und sie leiden darunter.“ Auch aus Angst vor einer Corona-Infektion würden teilweise Vorsorgeuntersuchungen nicht wahrgenommen. Dabei seien sie enorm wichtig.

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Derzeit impft sie eigene Patienten ab 16 Jahren, die priorisiert sind, mit Biontech. Viele Impfanfragen gingen ein. Das sei eine hohe Belastung für die Praxis – und „sie nimmt vermutlich noch zu, wenn die Priorisierung wegfällt und der Impfstoff auch für Kinder ab zwölf Jahren zugelassen wird. Dann erleben Kinderärzte das, was jetzt gerade die Hausärzte erleben“. Außerdem: In dieser und der kommenden Woche erhält Erencin nicht die gewünschten Mengen an Impfstoff.

Gemeinschaftspraxis führt derzeit keine Impf-Warteliste

Auch die Gemeinschaftspraxis Brockhaus und Backendorf impft derzeit eigene Patienten mit chronischen Vorerkrankungen ab 16 Jahren. Eine Impfwarteliste wird nicht geführt.