Gladbeck. 561 Mal machten sich Unfallfahrer im Jahr 2022 aus dem Staub. Kein Kavaliersdelikt, sondern eine Straftat. Was geht in den Köpfen der Täter vor?
Jeden Tag machen sich im Kreis Recklinghausen, rein statistisch gesehen, mindestens zwölf Menschen aus dem Staub, nachdem sie einen Unfall begangen haben. Wohlgemerkt: täglich! Für Gladbeck gingen 561 Fälle im Jahr 2022 in die polizeiliche Statistik ein. Bedenken wir, dass es sich bei Verkehrsunfallflucht um kein Kavaliersdelikt, sondern um eine Straftat handelt, eine doch beachtliche Zahl. Was bewegt die Menschen, das Risiko einzugehen, erwischt und zur Rechenschaft mit allen Konsequenzen gezogen werden?
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Wie schnell ist es passiert: Einmal verschätzt – und sei es nur um einen Zentimeter –, und schon ist es passiert: mit dem Auto an ein anderes getitscht. Das Malheur ist oft größer, als es auf den ersten Blick scheint. Was wie ein Kratzer aussieht, täuscht. Schnell ist ein vierstelliges Sümmchen für die Reparatur zu blechen, wenn man die Beseitigung der Schäden aus eigener Tasche und nicht über die Versicherung abwickeln möchte. Ein Grund, sich nach einem Unfall aus dem Staub zu machen?
Bei Verkehrsunfallflucht drohen Freiheits- und Geldstrafen
„Bloß nicht!“, wehren Polizei und der Gladbecker Kfz-Gutachter Patrick Klein ab. Denn: Unfallflucht ist keine Bagatelle, sondern eine Straftat. Und die Konsequenzen sind hart, wird ein Fall aufgeklärt. Das Strafgesetzbuch sieht für „Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort“, wie es juristisch korrekt heißt, eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe vor. Zudem müssen aufgespürte Flüchtige mit Punkten in Flensburg und Fahrverboten rechnen.
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Und doch suchen immer wieder Unfallfahrer das Weite. Manchmal vielleicht aus Unwissenheit. Corinna Kutschke, Sprecherin im Polizeipräsidium Recklinghausen, stellt fest: „Es ist noch immer in der Öffentlichkeit nicht durchgedrungen, dass es nicht reicht, einen Zettel hinter den Scheibenwischer des beschädigten Fahrzeugs zu klemmen.“ Dieser Hinweis könne von Regen aufgeweicht oder vom Wind weggeweht werden. Noch einmal das Strafgesetzbuch: Ein Verursacher muss „die Feststellung seiner Person, seines Fahrzeugs und der Art seiner Beteiligung durch seine Anwesenheit und durch die Angabe, dass er an dem Unfall beteiligt ist“, ermöglicht haben. Oder: eine „nach den Umständen angemessene Zeit“ gewartet haben. Polizeisprecherin Kutschke sagt: „Fast jeder hat heutzutage ein Handy und kann der Polizei kundtun, dass etwas passiert ist. Dann ist man auf der sicheren Seite.“ Mal ganz davon abgesehen, dass Versicherungen genau für solche Fälle abgeschlossen werden: nämlich zur Schadensregulierung. Und die Geschädigten nicht auf den Kosten für die Instandsetzung sitzenbleiben.
Der Verkehrsunfallbericht der Polizeibehörde Recklinghausen führt für das Jahr 2022 in Gladbeck 561 Fälle auf, in denen Autofahrer sich ihrer Verantwortung entzogen haben. Das sind 83 mehr als im Vorjahr (478). Dabei ist allerdings zu bedenken: 2021 war wegen der Corona-Pandemie wenig los auf den Straßen. Zum Vergleich: Anno 2020 gingen 524 Verkehrsunfallfluchten in die Statistik ein, 2019 waren es 571, im Jahr davor 496.
„Die Schadenshöhe der Fälle in Gladbeck belief sich im Jahr 2022 auf durchschnittlich 1746 Euro“, so Kutschke, „mehrheitlich handelte es sich bei den Tatverdächtigen um die Altersgruppe von 25- bis 65-Jährigen.“ Deutlich über der genannten Schadenssumme lag kürzlich, am 23. Juli, ein Vorfall auf der Postallee in Gladbeck: bei schätzungsweise 28.000 Euro.
Eine 60-jährige Autofahrerin war in Richtung Friedrich-Ebert-Straße unterwegs, als ihr auf ihrer Spur ein Wagen entgegenkam. Der Fahrer dieses Pkw versuchte auszuweichen. Dabei stieß der Unbekannte mit einem geparkten Fahrzeug und dem Wagen der 60-Jährigen zusammen. Im Polizeibericht heißt es: „Anschließend flüchtete der unbekannte Fahrzeugführer fußläufig von der Unfallstelle. Eine Fahndung wurde eingeleitet. Das Fahrzeug des Flüchtigen wurde sichergestellt.“
Ein enormer Sachschaden, aber verletzt wurde niemand. Das sah 29 Mal im Jahr 2022 anders aus. Und damit gab’s neunmal mehr Verletzte im Zusammenhang mit einer Unfallflucht als 2021. Die Aufklärungsquote betrug seinerzeit 55 Prozent. 2022 fiel sie mit 48,28 Prozent niedriger aus. Noch geringer ist allgemein die Aufklärungsquote bei Verkehrsunfallfluchten: Im aktuellen Zahlenwerk liegt sie bei rund 39 Prozent, damit etwas höher als 2021 mit etwa 37 Prozent. In den Jahren 2018 (36 Prozent) und 2019 (34 Prozent) wurden noch weniger Fälle aufgeklärt, 2020 mit 41 Prozent etwas mehr.
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„Wir suchen immer wieder nach Zeugen, um Verkehrsunfallfluchten aufzuklären. Manche Hinweise führen auch zum Erfolg“, berichtet Corinna Kutschke. Deshalb der Appell: Wer etwas beobachtet hat, sollte die Telefonnummer 110 wählen und die Polizei informieren.
Briefkästen für Hinweise
Das Polizeipräsidium Recklinghausen hatte Zeugenbriefkästen aufgestellt, um mehr Hinweise zu Verkehrsunfallfluchten zu erhalten.Standorte waren in Bottrop, Recklinghausen, Marl und Castrop-Rauxel stark frequentierte Parkplätze, beispielsweise an Supermärkten. Erfahrungsgemäß kommt es auf solchen Flächen immer wieder zu „Autoremplern“.
Aber, so Polizeisprecherin Corinna Kutschke: Dieser Versuch wurde wieder eingestellt. „Die Zeugenbriefkästen wurden abgebaut, weil die Resonanz zu gering war. Die Menschen rufen eher die Polizei an, wenn sie Hinweise geben wollen, als eine Nachricht in einen Briefkasten zu stecken.“
Wer einen Verkehrsunfall baut, sollte stets berücksichtigen: Jemand kann’s gesehen haben, warnt Fachmann Patrick Klein. Aber wenn man nicht bemerkt hat, dass man ein anderes Fahrzeug beschädigt hat? Kann doch sein, oder? Das kann sich der Gladbecker Kfz-Sachverständige nur schwerlich vorstellen: Man spüre, wenn man gegen einen etwas fahre. Außerdem: „Der Hauptteil der Fahrzeuge heutzutage hat Parksensoren.“ Aber sogar falls diese „Laut geben“: „Die Menschen fahren trotzdem weiter.“
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Klein weiß, dass „manche sogar noch aussteigen und nachschauen. Sie sehen nichts und fahren weiter. Aber jemand hat aus dem Fenster geguckt...“. Und falls dieser Zeuge den Vorfall der Polizei meldet, ist die Unfallflucht bald geklärt.
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Die Spurensicherung am Unfallort und technische Möglichkeiten werden immer ausgeklügelter, um Tatverdächtige zu überführen. Polizeikräfte nehmen an speziellen Fortbildungen teil, um auch den allerkleinsten Anhaltspunkt zu berücksichtigen: Teile eines Nummernschilds, Lackspuren, Glassplitter, abgerissene Außenspiegel und vieles mehr sind wertvolle Fingerzeige.
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Ein Gros der Tatorte des Jahres 2022 in Gladbeck befand sich in Tempo-30-Zonen und verkehrsberuhigten, entschleunigten Bereichen, so Kutschke: „Da handelte es sich um Parkrempler.“ Knapp 30 Prozent der Unfallfluchten geschahen in diesen Gebieten. Mit knapp 20 Prozent waren Parkplätze Orte des Geschehens. Im Ranking steht die Adresse Bohmertstraße (am Hotel) oben, gefolgt von Friedrichstraße und Horster Straße. Ein Beweggrund, Fahrerflucht zu begehen: „Alkohol spielt da eine Rolle.“
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„Schäden erscheinen harmlos“, so Fachmann Klein. Ein genauer Blick bringt’s ans Tageslicht: Dem ist nicht so. „Das Problem ist, dass zum Beispiel die Stoßfänger alle aus Kunststoff sind“, erklärt er. Sie können zurückgedrückt, Querträger dahinter in Mitleidenschaft gezogen sein. Verschobene Autokennzeichen, die den Lack zerkratzen, demolierte Scheinwerfer – Beschädigungen sieht Klein viele. Allesamt keine Lappalien: „Das kostet eine vierstellige Summe – Minimum.“