Gladbeck. Verzweiflung bei in Gladbeck lebenden Menschen aus Afghanistan ist groß. Sie befürchten das Schlimmste durch die Taliban. Drei Männer erzählen.
Verzweiflung, Angst, Trauer, Enttäuschung und doch die Hoffnung, dass eine Art Wunder geschieht, ist aus den Worten zu hören und in den Augen von Hayattulah (45) und seinem Sohn Ahmad (22) oder ihrem jungen Landsmann Khodadat (28) abzulesen. Auch sie verfolgen über Fernsehen und Internet die schrecklichen Bilder der fliehenden Menschen in Afghanistan, die sich an startende Flugzeuge festklammern, um dem Zugriff der Taliban zu entgehen. In Windeseile haben die selbst ernannten Gotteskrieger das Land nach dem Abzug der westlichen Truppen eingenommen. Die nach Gladbeck Geflüchteten fürchten um das Leben ihrer Familien in Afghanistan. „Ich habe Angst um meine Mutter und meine kleinen Geschwister“, sagt Ahmad leise und mit erschöpfter Stimme im Büro der Evangelischen Flüchtlingshilfe Gladbeck.
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Seit einer Woche, seit sich die Nachrichten von nach und nach durch die Taliban eingenommenen Provinzen und Städten geradezu überschlagen, könnten sie nicht mehr schlafen, oder hätten Alpträume und versuchten, in Kontakt mit den Verwandten zu bleiben, die verzweifelt um ihr Leben fürchten. Das sei ja auch 2016 der Grund für seine Flucht mit zwei Söhnen bis nach Deutschland gewesen, berichtet Hayattulah, dessen landesweit bekannte Musiker-Familie durch die Taliban bedroht ist. Denn sie würden Kunst und Kultur ebenso verdammen wie Schulbildung für Mädchen und Frauen und brutal bestrafen. Sein ältester Sohn sei bei seiner Frau und den drei jüngeren Kindern zurück geblieben. „Mit der Aufgabe, sie zu beschützen, bis wir sie alle nach Deutschland in Sicherheit geholt haben.“
Am Anfang voller Zuversicht auf eine schnelle Zusammenführung der Familie
Damals war er noch voller Zuversicht, dass die Familienzusammenführung schnell gelingt. Ein Trugschluss, denn noch immer harren seine Frau, seine beiden Söhne und seine Tochter in Kabul aus. Was mit dem ältesten Sohn ist, sei seit 2017 ungewiss. Ahmad erzählt weiter: „Nachbarn haben uns erzählt, dass sie gesehen haben, wie mein Bruder auf dem Weg zurück vom Einkauf auf dem Markt in ein Auto der Taliban gezerrt wurde.“ Seitdem verliere sich seine Spur. Und seit zwei Tagen sei jetzt auch die Verbindung zur Mutter via Smartphone abgebrochen. „Wir wissen nicht, was ist, mein Vater ist schon seit Jahren voller Schuldgefühle und in ärztlicher Behandlung und jetzt total verzweifelt - wie ich“, so der junge Mann, der in Gladbeck eine Ausbildung zum Bäcker und Konditor absolviert.
Hoffnung auf Gastfreundschaft
Reile Hildebrandt-Junge-Wentrup, Pfarrerin im Ruhestand und Leiterin des Flüchtlingsarbeitskreises der Ev. Flüchtlingshilfe, hofft dass die schrecklichen Fernsehbilder und die jetzt neue Flüchtlingswelle aus Afghanistan auch zur Bereitschaft führen, mehr Geflüchtete in Deutschland und auch in Gladbeck aufzunehmen.
Flüchtlingshelfer Andreas Schlebach hat dazu wenig Illusionen, dass trotz der Krise eine schnelle Familienzusammenführung gelingt. Es gebe bereits jetzt Aussagen aus dem Außenministerium, dass Personen mit bereits erteiltem deutschen Aufenthaltsstatus aus Kabul ausgeflogen werden sollen, dies aber nicht per se für Familienzusammenführungen gelte.
Schlimme Handyvideos, die jetzt via Internet kursieren und auch von den Taliban selbst verbreitet werden, lassen die Geflüchteten das Schlimmste befürchten. „Da ist zu sehen, wie Taliban sich gewaltsam junge Mädchen aussuchen, die sie aus den machtlosen Familien entführen, um sie mit ihren Kämpfern zu verheiraten“, zeigt Khodadat auf seinem Smartphone. Auch ins Dorf seiner Mutter im Umfeld der Stadt Gazni seien die Taliban eingedrungen. „Sie haben sich meine vier jüngeren Geschwister angesehen und nach dem Alter meiner ältesten, achtjährigen Schwester gefragt. Dann gesagt, wenn sie neun sei, würden sie wiederkommen, sie zu holen.“ Die Mutter sei danach in eine Art Schockstarre gefallen. Was mit seinem Vater wäre? Den hätten die Taliban 2019 verschleppt, seitdem sei er verschwunden.
Unverständnis über das Handeln der deutschen Behörden
Bei allen drei Geflüchteten wird Unverständnis deutlich, dass die deutschen Behörden bis kurz vor dem Taliban-Sturm noch abgelehnte Asylbewerber in das instabile Land am Hindukusch abgeschoben haben. Und dass auch ihre Anträge nur im Schneckentempo bearbeitet worden seien, oder kein offizieller Flüchtlingsstatus anerkannt wurde, „obwohl wir über Zeitungsberichte und Regierungsdokumente die Künstlertätigkeit unserer Familie belegen konnten“, die etlichen von den Taliban ermordeten Musikern bereits zum Verhängnis geworden sei, so Ahmad.
Khodadat hatte zuletzt auch für die Einreise seiner Verlobten gekämpft. „Seit zwei Jahren tragen wir mühsam alle geforderten Dokumente zusammen.“ Sie habe einen Kurs in Masar-e Sharif besucht, um die verlangten Deutschkenntnisse nachzuweisen - dann kamen die Taliban. Jetzt hoffen alle auf ein Umdenken der deutschen Behörden, dass der Flughafen in Kabul gehalten werde, „bis auch alle bedrohten Familienangehörige ausgeflogen und zusammengeführt werden können“.