Gladbeck. In der Corona-Krise leiden Frauen in Gladbeck mehr als Männer. Und zwar körperlich und seelisch. Zu den Folgen zählen Essstörungen und Gewalt.

Homeschooling, Schutzmaßnahmen, Sorgen um die Liebsten und die Zukunft: Durch die Corona-Krise fühlen sich Frauen in Gladbeck härter getroffen als Männer. In manchen Fällen erreichen die Stressfaktoren ein so hohes Niveau, dass sich die Betroffenen an Fachleute, wie die Frauenberatungsstelle, wenden. Expertin Sarah Sandi berichtet, wie sich die Strapazen in der Pandemie-Zeit mit all ihren gravierenden Folgen auf den Alltag von Frauen auswirken.

Auch interessant

Im Corona-Check dieser Zeitung lautete eine Frage: „Wie sehr belastet Sie die Corona-Krise persönlich?“ Die Befragten konnten eine Bewertung auf einer Skala von 1 (gar nicht) bis 5 (sehr stark) abgeben. Bei Frauen ist ein Wert von 3,48 zu verzeichnen. Männer kommen auf einen Schnitt von 3,37. „Wie sehr sorgen Sie sich um Ihre Eltern?“ – diese Frage erreicht bei Gladbeckerinnen einen Wert von 3,05. Die Einschätzung der Männer: 2,75. Zum Punkt, wie sehr sie ihre Gesundheit durch das Virus gefährdet sehen, ergab der Corona-Check eine 2,97. Gladbeckerinnen lagen mit 3,01 darüber.

Gladbeck: Die Dunkelziffer auf den Feld der häuslichen Gewalt ist hoch

Wenn sich Frauen an Sarah Sandi und ihre Kolleginnen wenden, ist die Not groß. Akut gebe es für die Betroffenen so gut wie keine Möglichkeit für eine Psychotherapie – zum Beispiel bei Angstzuständen und Depressionen. Sandi spricht von enormen Stressfaktoren durch Homeschooling, Kontaktbeschränkungen, den Verlust von Strukturen, Quarantäne, Angst um den Job. „Mein Gefühl ist, dass die Belastungen so unaushaltbar sind, dass die Frauen aktiv werden“, meint die Expertin. Sie stellt fest: „Corona macht die Köpfe krank.“

Auch interessant

Susanne Dillner, Saskia Meyer und Sarah Sandi (v.l.) sowie Miriam Schmikowski bilden das Expertinnen-Team der Frauenberatungsstelle Gladbeck.
Susanne Dillner, Saskia Meyer und Sarah Sandi (v.l.) sowie Miriam Schmikowski bilden das Expertinnen-Team der Frauenberatungsstelle Gladbeck. © FUNKE Foto Services | Lutz von Staegmann

Nicht nur das. Frauen entwickelten beispielsweise unter dem großen Druck Essstörungen. Das Team der Frauenberatungsstelle registriert ein stetig wachsendes Interesse an Angeboten zu dieser Problematik. Ebenfalls auffällig: die Entwicklung der häuslichen Gewalt. Dabei muss nicht die Hand erhoben werden, um Opfer zu verletzen. Andreas Lesch, Sprecher im Polizeipräsidium Recklinghausen, stellt klar, dass verbale Herabsetzungen und Beleidigungen ebenfalls eine Form von Gewalt darstellen.

Auch interessant

Andreas Lesch, Sprecher der Polizei Recklinghausen: „Wir können nur über das Hellfeld sprechen.“
Andreas Lesch, Sprecher der Polizei Recklinghausen: „Wir können nur über das Hellfeld sprechen.“ © Polizeipräsidium Recklinghausen

Ob diese Aggressionen in Folge der speziellen Lebensbedingungen zugenommen haben? Die polizeiliche Statistik für Gladbeck lässt diesen Rückschluss nicht zu. Lesch erläutert: „Absolute Zahlen stehen uns nicht zur Verfügung. Das liegt daran, dass unter den Oberbegriff ,häusliche Gewalt’ viele Einzeldelikte fallen. Es wäre eine gesonderte Studie notwendig, um das Thema zu beleuchten.“ Er erkenne eher – wie seit Jahren – eine rückläufige Tendenz bei den Fallzahlen. Das könne daran liegen, dass es mehr Hilfsangebote als früher gebe. „Vielleicht rücken die Menschen in Krisenzeiten auch mehr zusammen und vertragen sich“, so Lesch, „aber da bewegen wir uns im Kreis der Spekulation.“ Nicht zu verhehlen ist zudem: „Wir können nur über das Hellfeld sprechen.“ Im Klartext: über bekannte, angezeigte Fälle.

Auch interessant

Sarah Sandi sagt: „Das Landeskriminalamt hat 2020 im Vergleich zum Vorjahr eine Zunahme der Fälle häuslicher Gewalt von 7,7 Prozent festgestellt.“ Vermutlich nur die Spitze des Eisbergs. Denn auch sie hebt hervor: „Wir können das Dunkelfeld nur schwer einschätzen.“

Auch interessant

Aber eines sei offenkundig, so Sandi: „Wir bemerken aktuell eine deutliche Veränderung, was die Auslastung bei uns angeht. Wir haben konstant hohe Zahlen.“ Sandi stellt klar: „Wir sprechen von einem Anstieg in der Auslastung, obwohl wir weniger Beratungskontakte haben.“ Die Erklärung: „Wir haben nicht mehr Fälle, sondern gravierendere. Was darüber hinaus zugenommen hat, ist die psychische Belastung.“

Die aktuelle Situation stehe im Gegensatz zu Pandemie-Zeiten im vergangenen Jahr. Die Expertin erzählt: „Im ersten Lockdown haben wir einen Einbruch bei den Beratungen bemerkt. Das Telefon stand still. Es blieb beängstigend ruhig. Das ist jetzt nicht mehr so.“ Sandi mutmaßt, dass seinerzeit viele Betroffene einfach keine Chance hatten, sich unbemerkt bei der Frauenberatungsstelle zu melden. Schließlich lebe der Täter häufig unter einem Dach mit dem Opfer, wegen der auferlegten Kontaktbeschränkungen sei es schlicht unmöglich, dieser Situation zu entfliehen.

Auch interessant

„Nach dem Ende des ersten Lockdowns nahmen die Anfragen nach und nach zu. Dann gab es ein Aufploppen bei den Nachfragen, plötzlich wurden es immer mehr“, berichtet Sandi. Das könne daran liegen, dass es mittlerweile diverse Wege gebe, mit dem Team der Beratungsstelle Verbindung aufzunehmen – „Wir haben ein großes Maß an Flexibilität entwickelt“. Beispielhaft genannt sei „Walk and Talk“: „Wir treffen uns mit den Frauen draußen zum Spaziergang.“ Dennoch geht die Expertin davon aus, dass „die Dunkelziffer groß ist“: „Es wird viele geben, die sich nicht melden können.“ Auffällig sei, dass sich Klientinnen melden, „die wir vor einigen Jahren betreut haben und die dann stabil waren“: „Sie kommen jetzt wieder.“

Auch interessant

Kontaktmöglichkeiten

Die Frauenberatungsstelle Gladbeck hat ihren Sitz an der Wilhelmstraße 46. Eine erste Kontaktaufnahme ist möglich unter 02043 66699. Ratsuchende können Informationen erhalten und gegebenenfalls individuelle Termine vereinbaren. Zum Team gehören neben Sarah Sandi noch Saskia Meyer, Susanne Dillner und Miriam Schmikowski.

Andreas Lesch, Sprecher der Polizeibehörde Recklinghausen, rät Geschädigten: „Auf jeden Fall Strafanzeige erstatten.“ Oder sich an die Kollegen aus dem Bereich Opferschutz wenden – und zwar über 02361/550: „Dort kann man sich dann verbinden lassen.“

Oder: Das Kommissariat für Kriminalprävention und Opferschutz ist erreichbar unter 02361/ 55-3341. Ein Kontakt per E-Mail ist ebenfalls: möglich kriminalpraevention.recklinghausen@polizei.nrw.de

Andreas Lesch erzählt: „Die meisten Fälle häuslicher Gewalt sind solche, die sich schleichend entwickeln. Es steckt eine gewisse Dynamik dahinter. Der Täter kehrt zurück mit dem Versprechen: Alles wird anders.“ Bei diesen Beziehungstaten seien die Geschädigten – der Polizeisprecher spricht ungern von „Opfern“ – immer wieder bereit, zu verzeihen.

Auch interessant

Bei akuten Gewaltausbrüchen rät er, sich zunächst möglichst der ernsten Lage zu entziehen. Die Polizei, die Betroffene alarmieren sollten, kann als erste Maßnahme der Gefahrenabwehr einen Wohnungsverweis aussprechen.“ Sandi berichtet: „Wir gucken, wo die Frau einen sicheren Raum finden kann. Der erste Weg, den wir anstreben: Der Täter verlässt die Wohnung, die Frau bleibt.“ Frauenhäuser, die ohnehin stets ausgelastet seien, stellen laut Sandi die letzte Option dar. Ob sich die Lage hinter Wohnungstüren entspannt, vermag die Mitarbeiterin der Beratungsstelle derzeit nicht abzusehen. Sie rechnet jedoch damit, „dass die Zunahme weiter steigt, wenn die Lockdown-Maßnahmen fallen“. Dann haben in der Corona-Krise stark belastete Frauen mehr Gelegenheiten, sich zu öffnen.

Weitere Berichte und Meldungen aus Gladbeck lesen Sie hier.