Gladbeck. Dank der Corona-Schutzmaßnahmen sind Infektionskrankheiten zurückgegangen. Doch bei Kindern entwickeln sich u.a. Tics.
Die Corona-Krise macht Kinderärzten schwer zu schaffen. Nicht etwa, weil die Eltern samt junger Patienten die Praxen stürmen, wie der Laie gemeinhin denken könnte. Eher das Gegenteil ist der Fall, berichten Mediziner in Gladbeck. Doch in der Pandemie entwickeln sich bestimmte Tics bei Kindern.
Dr. Stefan Kusserow macht keinen Hehl aus den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Ausbreitung: „Ich musste bisher draufzahlen.“ Wenn weniger in die Kasse fließt, aber die laufenden Kosten bleiben, dann ergeben sich deutliche finanzielle Einbußen, von denen der Kinder- und Jugendarzt spricht. „Zu Beginn des ersten Lockdowns kamen 25 Patienten hier herein“, erzählt der Mediziner. Welch’ eine Differenz zu „Vor-Corona-Zeiten“. Kusserow: „Da hatte ich im Winter 150 Tagespatienten. Seit dem Februar 2020 habe ich die 100er-Marke nicht mehr geknackt.“
Gladbeck: Die Grippewelle blieb aufgrund der Corona-Schutzmaßnahmen aus
Als ein Schutzschirm ins Gespräch gekommen sei, um die massiven Einbrüche abzufedern, habe sich nach und nach herausgestellt: „Man kriegt nicht alle Ausfälle ersetzt.“ Sicherheitshalber habe er Kurzarbeit für seine Praxis mit einem sechsköpfigen Team angemeldet und getestet, aber dann doch nicht umgesetzt.
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„Anfangs habe ich bei den Arzthelferinnen gehört, dass Eltern sagten: ,Ich möchte mit meinem Kind nicht in die Praxis kommen, ich habe Angst vor einer Ansteckung’“, erzählt Kusserow. Mittlerweile sei das Vertrauen zurückgekehrt, auch wegen der Schutzmaßnahmen. Aber: Junge Schützlinge bleiben dennoch fern. Unterm Strich möchten Kusserow und sein Kollege Carsten Rothert, der in einer Gemeinschaftspraxis arbeitet, nicht jammern: „Unsere Situation ist nicht vergleichbar mit der von Gastronomen.“ Doch die Auswirkungen der Krise seien spürbar.
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Das erklärt Kusserow einerseits mit einem veränderten Verhalten der Eltern: „Sie lernen bei einfachen Themen, beispielsweise im Bereich Wundsein im Mund, sich selbst zu helfen oder erst einmal abzuwarten.“ Rothert: „Im ersten Lockdown haben die Menschen versucht, Arztbesuche zu vermeiden und zu gucken: Was kann ich selbst machen.“
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Zudem stecken sich weniger Kinder an, weil es weniger Kontakte gibt. „Wir haben einen Rückgang der akuten Infektionen wie etwa Husten, Schnupfen und Durchfall-Erkrankungen. Das sind viel weniger als in früheren Jahren, schätzungsweise ein Minus von 30 bis 40 Prozent“, meint Rothert. Eine Grippewelle gebe es aktuell nicht. Denn: „Masken, Distanz, geschlossene Schulen und Kitas, Homeoffice und Hygiene-Regeln – das gesamte Paket schlägt gegen zig Viren an.“
Manche junge „Corona-Opfer“ reagieren drastisch
Wie Rothert meldet Kusserow: „Vorsorge und Impfbetrieb geschehen wie immer.“ Diesen Bereich nehme er besonders in den Fokus. Deswegen freut er sich: „Wir haben eine hohe Impfquote.“ Ebenso lege er sehr viel Wert auf gründliche Vorsorgeuntersuchungen. Und dazu „gehören Fragen, die in die Familien-Psychologie ragen“, erläutert der Mediziner. Was ad hoc harmlos klingt, bringt Probleme in Folge der Corona-Krise ans Tageslicht. Kusserow: „So haben mir in zwei Wochen vier Mütter erzählt, dass sie sich von ihrem Partner getrennt haben“ – eine starke seelische Belastung für die Kinder.
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Apropos Belastung: Diese äußere sich auch in Aggressionen unter Geschwistern, die es vor Ausbruch der Pandemie in diesem Maße nicht gegeben habe. Einen deutlichen Anstieg verzeichnet Kusserow gleichfalls bei Tics, zum Beispiel Räuspern, Mundöffnen und einseitiges Blinzeln: „Diese drei sind auffällig bei Vier- bis Sechsjährigen nach oben gegangen. Ein Fall trat direkt mit Ausbruch der Pandemie auf.“
Impfungen und Vorsorge
Wie in den Vor-Corona-Jahren laufen, so Carsten Rothert, Impfungen und Vorsorge: „Da kommen wir gut zurecht, wir haben zwar in diesem Bereich ein Minus, doch das ist nicht existenzgefährdend. Die Impfschemata werden generell wahrgenommen.“ Schutz gegen Diphtherie, Tetanus, Röteln etc. sei den Eltern weiterhin wichtig.
Ein differenzierter Blick bringt zutage: „Bei den U2-Untersuchungen, also direkt nach der Geburt, verzeichnen wir sogar einen Zuwachs.“ Das, so begründet der Arzt, sei darauf zurückzuführen, dass „viele Mütter aus Corona-Gründen nach der Entbindung nicht im Krankenhaus bleiben wollen“.
Von „Corona-Opfern“, die drastisch reagierten, berichtet Kusserow. Da ist der Sechsjährige, der sich büschelweise Haare ausreißt, oder die Jugendliche, die sich ritzt. Dagegen scheinen Kinder, die wieder Nacht für Nacht bei Mama und Papa schlafen, fast simpel. Kusserow: „Der Anteil der Elternbett-Schläfer ist signifikant gestiegen. Dabei ist die Schlafhygiene für Kinder wegen der Entwicklung der Eigenständigkeit wichtig.“
„Die Fälle von Verstopfung haben eklatant zugenommen“
Eine Verschlechterung der Ernährung und weniger Bewegung plus Essen aus Langeweile = mehr dickere Kinder. Diese Rechnung macht Kusserow auf. Rothert schätzt, dass bei ihm etwa fünf bis zehn Prozent coronabedingt sind. Der genannte Faktoren-Mix zieht den Spitzenplatz auf Kusserows Häufigkeitsliste der Fälle nach sich: Verstopfungen. Der Arzt: „Von Anfang Dezember bis Anfang Februar haben sie bei Kindern und Jugendlichen eklatant zugenommen.“