Gelsenkirchen. Die Abhängigkeit wird oft verschwiegen, zugleich ist sie ein Problem. Die Folgen von Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch aber werden schlimmer.

Der Opa sitzt abends gern vor dem Fernseher. Dann trinkt er zwei, drei Bierchen. Jeden Tag. Das war schon immer so. Das darf man ihm doch nicht nehmen. Oder? Eine Frage, die das Medizinforum im Elisabeth-Krankenhaus behandelte. Es trägt den Titel „Piccolo, Pils und Pillen“ und dreht sich um Sucht in der zweiten Lebenshälfte.

Von einer Abhängigkeit spricht man, wenn ein Wunsch oder Zwang zum Konsum besteht, man die Kontrolle verliert über die Menge und kein Ende findet, wenn man eine Toleranz entwickelt, man andere Interessen vernachlässigt und der Konsum schädliche Folgen hat. Trifft auf unseren Opa nicht alles zu?

„Es müssen nur drei Kriterien erfüllt sein. Das ist wichtig zu wissen“, erklärt Dr. Astrid Rudel, Chefärztin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Und welche Menge darf man trinken? „Frauen täglich höchstens ein kleines Glas Wein. Männer etwas mehr. Aber selbst das führt zu einer Gewöhnung.“ Vielleicht noch heimtückischer ist die Abhängigkeit von Medikamenten im Alter. Denn dann werden nun einmal mehr davon verschrieben – und zuweilen noch immer die falschen.

Problematisch sind hier in erster Linie Schlafmittel und Beruhigungsmittel sowie Schmerzmittel. Das ist mitunter noch bekannt. Abhängig macht aber auch Codein, das in einigen Hustensäften enthalten ist. Und abschwellende Nasentropfen, wie auch Abführmittel.

Das Expertentrio des Elisabeth-Hospitals: Dr. Astrid Rudel, Dr. Andrea Erdmann und Dr. Willi Leßmann.
Das Expertentrio des Elisabeth-Hospitals: Dr. Astrid Rudel, Dr. Andrea Erdmann und Dr. Willi Leßmann. © FUNKE Foto Services | Tamara Ramos

Senioren als Betroffene nicht im Fokus

Zeichen für einen Missbrauch sind Inaktivität, schlechte Stimmung, zunehmende Schmerzen.

Ein großes Problem sei das mangelnde gesellschaftliche Bewusstsein für Suchterkrankungen im fortgeschrittenen Alter, erklären die Experten. „Ältere Menschen werden erst langsam zur Zielgruppe von Suchttherapie und Prävention. Alte Leute machen eben keine Schlagzeilen, machen kein Komasaufen und sind in der Regel auch kein öffentliches Ärgernis“, so Dr. Willi Leßmann, leitender Arzt der Klinik für Geriatrie.

Im Alter kann der Körper schlechter mit schädigenden Substanzen umgehen

Die Fähigkeit des Körpers aber, mit schädigenden Stoffen umzugehen, nimmt mit dem Alter ab. Das bedeutet, die Zerstörungen werden immer schwerwiegender. Die Folgen von Alkoholmissbrauch sind vielseitig, reichen von kognitiven Störungen über Tumore in Kopf, Hals und Speiseröhre, über Lebererkrankungen, Bauspeicheldrüsenentzündungen, Bluthochdruck, Schlaganfall bis hin zu Magengeschwüren.

Sinkende Lebensfreude als Auslöser von Sucht

Mitarbeiter des Elisabeth-Hospitals und von Hilfsorganisationen waren ebenso beim Medizinforum dabei.
Mitarbeiter des Elisabeth-Hospitals und von Hilfsorganisationen waren ebenso beim Medizinforum dabei. © FUNKE Foto Services | Tamara Ramos

Es ist aber auch Angehörigen möglich, der Sucht vorzubeugen. „Wenn man gefährdet ist, fehlt es an Lebensqualität, an Zuwendung und Anlässen, sich am Leben zu erfreuen.“Im Falle von Medikamentenabhängigkeiten sei man selbst gefragt oder auch die Angehörigen. „Da hilft die 4-K-Regel. Das heißt, klare Indikation, kleinstmögliche Dosis, kurze Anwendungszeiten, weniger als 14 Tage und kein abruptes Absetzen der Medikamente.“

Ansatz: Darüber reden

Bemerkt man ein Problem sei es wichtig, dies sehr behutsam anzusprechen, so Dr. Andrea Erdmann, leitende Oberärztin an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. „Das Thema ist tabuisiert. Viele Menschen wissen nicht, wie man darüber sprechen soll.“ Dabei ist genau das wichtig.

Alkohol, hauptsächlich ein Männerproblem

Abhängigkeitserkrankungen sind bei Menschen der zweiten Lebenshälfte recht häufig. Ein Viertel der Männer im Alter von 60 bis 69 Jahren trinken riskante Mengen Alkohol.

Und: Rund ein Fünftel der Männer sind bei Einzug in ein Pflegeheim abhängig von Alkohol. „Ein Problem, das gerne unter den Tisch gelehrt wird“, so Leßmann.

Empathie statt harter Vorwürfe

„Das Ziel eines Gespräches ist es, eine Veränderungsbereitschaft zu fördern. Das geht über einen verbindlichen Einstieg der Zuneigung ausdrückt, das Formulieren, was auffällt und Sorgen bereitet, Informationen anzubieten und einen verbindlichen Abschluss zu finden.“ Dabei dürfe man sich nicht auf Diskussionen einlassen bezüglich der Menge oder der Dramatik. „Das ist schamvoll für die Betroffenen und erzeugt Widerstände.“ Im Fall unseres Opas könnte das Gespräch wie folgt beginnen: „Opa, wir haben dich sehr gern. Deswegen machen wir uns Sorgen um dich.“ Dann tauscht der ältere Herr sicher nicht spontan sein Bierchen gegen Apfelschorle ein. Aber ein Anfang ist gemacht.