Von Schmerzmitteln bis zu Psychopharmaka. Insgesamt 262 Arzneimittel sind aktuell nicht lieferbar. Dramatisch ist die Situation bei Impfstoffen.

Die Lage ist nicht nur prekär – sie kann im Extremfall sogar lebensbedrohlich sein: Lieferengpässe bei Arzneimitteln verunsichern Patienten und machen Apotheker wütend.

Aktuell sind 262 Arzneimittel nicht lieferbar, sagt Apothekerin Pradel

Dorothee Pradel, Inhaberin der Elefanten-Apotheke in der Sparkasse und Sprecherin der Apothekerschaft im Kreis Recklinghausen, stellt beim Blick auf den PC-Bildschirm fest: Aktuell sind 262 Arzneimittel nicht lieferbar. „Das reicht von Calcium über Schmerzmittel und Psychopharmaka bis hin zu Herz-Kreislauf-Medikamenten und Impfstoffen“, weiß die Fachfrau. Seit 2017 spitze sich die Lage zu, beobachtet Dorothee Pradel und findet das in einem Land wie Deutschland „peinlich“.

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Jüngst haben Krankenhäuser Alarm geschlagen, weil ein Medikament nicht mehr am Markt war, das Frauen während und nach der Geburt bei starken Blutungen dringend brauchen. Pradel: „Das kann tödlich enden.“ Der Blutdrucksenker Valsartan war überhaupt nicht mehr zu bekommen und das Ersatzpräparat Candesartan in der Folge auch nicht mehr, weil dessen Hersteller auf die notwendige Mehrproduktion nicht vorbereitet war. Nur wenige Beispiele von vielen.

Dramatisch sei die Situation bei den Impfstoffen

Als dramatisch bezeichnen Dorothee Pradel und ihre Kollegen die Situation bei Impfstoffen. „Ein Pharmaunternehmen hat seinen Impfstoff gegen Gürtelrose so intensiv beworben, dass die Nachfrage sehr groß war. Die Folge: Für etliche Patienten gab es kein Serum mehr für die notwendige zweite Impfung.“ Auch ein Impfstoff für Kleinkinder war lange nicht zu bekommen.

Engpässe früher melden

Die Apothekerschaft fordert, dass die Hersteller Lieferengpässe früher als bisher bekannt geben. Außerdem müssten Krankenkassen Rabattverträge mit mehreren Herstellern abschließen.

Forderungen gibt es auch an die Politik: Exporte versorgungsrelevanter Arzneimittel, bei denen Knappheit besteht oder droht, sollten gesetzlich untersagt werden. Zudem müsse die Politik Rahmenbedingungen schaffen, damit Wirkstoffe wieder verstärkt in Europa produziert werden und Qualitätsstandards eingehalten werden.

Die Gründe für die Misere sind nach Ansicht der Apothekerschaft hausgemacht. „Die Rabattverträge zwischen den Krankenkassen und den Pharmaunternehmen haben diese Entwicklung ausgelöst“, sagt Pradel. „Das Unternehmen X bekommt den Zuschlag, die Apotheken dürfen nur noch deren Präparat verkaufen, die anderen Pharmafirmen fahren die Produktion zurück.“

Kostendruck durch die Krankenkassen

Erschwerend komme hinzu, dass Pharmakonzerne angesichts des Kostendrucks durch die Krankenkassen die Produktion der Wirkstoffe in wenige Betriebe in Billiglohnländer wie Indien und China verlagerten.

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Pradel: „Wenn dort die Produktion zeitweise stillsteht oder eine Charge wegen Verunreinigungen nicht freigegeben oder vom Markt genommen werden muss, können auch große Hersteller in Europa ihre Fertigarzneimittel nicht liefern.“ Und wegen des auch politisch gewollten niedrigen Preisgefüges für Medikamente in Deutschland könnten Pharmaunternehmen bei Lieferungen ins Ausland mehr Geld verdienen. Pradel: „Und das nutzen sie auch.“

Apotheker müssen nach wirkungsgleichen Medikamenten suchen

Die Apotheker kostet die missliche Situation viel Zeit. Pradel: „Ist ein Medikament nicht am Markt, müssen wir nach einem wirkungsgleichen Präparat suchen und häufig auch mit dem Arzt abklären, was für den Patienten die beste Alternative ist.“ Und den Krankenkassen müsse man dann auch noch nachweisen, dass das von ihnen gewünschte Präparat tatsächlich nicht zur Verfügung stand.

Noch sei es in den meisten Fällen möglich, für jeden Kunden ein Ersatzmedikament zu finden. Pradels Betonung aber liegt auf „noch“. Sie prognostiziert: „Wir merken, dass sich das Problem immer weiter verschärft. Irgendwann sind wir in der Situation, dass Patienten auch mit wirklich ernsthaften Erkrankungen auf andere Wirkstoffe umgestellt werden müssen – und dann wird es wirklich dramatisch.“