Gladbeck. Heike Becker ist von ganzem Herzen Kinderpflegerin. Im Job hat sie oft mit Kindern zu tun, die Nestwärme bei den Eltern nicht kennen lernen.

Manchmal stößt Heike Becker an ihre Grenzen. Dann muss selbst die gestandene Kinderpflegerin schlucken. Wie das eine Mal, als sie die Kinder in ihrem Freizeittreff kurz vor Muttertag fragte, wofür die ihren Müttern denn dankbar seien.

Einigen konnten sich die Kinder darauf, dass es dankenswert sei, dass die Mütter sie zur Welt gebracht haben. Als Heike Becker nachhakte, was die Mütter denn noch alles für ihre Kinder leisteten, gerieten die Jungen und Mädchen ins Grübeln. Wecken? Frühstück machen? Fehlanzeige. Gemeinsame Aktivitäten? Eher selten.

„Manche Sachen schockieren mich“, sagt die Brauckerin, die in einem Freizeittreff im Gelsenkirchener Süden arbeitet. Dabei liege es ihr fern, alle Eltern über einen Kamm zu scheren. Denn natürlich gebe es viele Eltern, die auch mit wenig Geld viel mit ihren Kindern unternehmen. Nur deren Kinder sind wohl eher selten Stammgäste in einem Freizeittreff.

Kinder dürfen Eltern nicht stören

Heike Becker arbeitet in einem sozialen Brennpunkt.
Heike Becker arbeitet in einem sozialen Brennpunkt. © Thomas Gödde

Es macht Heike Becker wütend, von Kindern zu hören, dass sie ihre Eltern nicht stören dürfen, wenn die gerade am Computer spielen. Wenn eine Zwölfjährige die Uhr nicht lesen kann, Kinder die einfachsten Rechenaufgaben nicht lösen können, weil niemand mit ihnen übt.

Wenn Kinder erzählen, dass es zu Hause kein Frühstück gebe, aber stattdessen fünf Euro für einen Snack vom Bäcker – obwohl es doch so viel günstiger und auch liebevoller wäre, daheim ein Butterbrot und etwas Obst oder Gemüse vorzubereiten. Und wenn Eltern nicht bereit sind, den Kindern den Monatsbeitrag von einem Euro für die Angebote im Freizeittreff zu geben – zu Weihnachten aber teure Geschenke präsentieren.

Es macht sie wütend, weil es so einfach wäre, den Kindern Abwechslung zu bieten, auch ohne dafür Geld auszugeben. „Wir hätten Möglichkeiten ohne Ende, mit den Kindern rauszugehen, aber wir erreichen die Eltern nicht“, sagt sie. Und das gelte für Migranten genauso wie für deutsche Eltern. Ihre Bemühungen seien schon oft an der Bequemlichkeit der Erwachsenen gescheitert. Umso mehr bemühe sie sich, „ihren“ Kindern soviel Normalität wie möglich zu bieten. „Ich mache bewusst ganz viele Sachen, die nichts kosten“, sagt sie.

Kinder sind Bewegung nicht gewohnt

Sie bereitet mit den Kindern gesunde Leckereien zu, serviert Obst und Gemüse, das manche von zu Hause nicht kennen. Im Herbst sammelt sie Laub und Kastanien zum Basteln, versucht, die Kinder für Bewegungsspiele zu begeistern. Und stößt dabei zwar einerseits auf Begeisterung, andererseits aber auch immer wieder auf Defizite.

Zum Beispiel beim Gummitwist. Das Hüpfspiel kannte kein Kind, und ihr Staunen darüber, wie gekonnt die Kinderpflegerin zwischen den gespannten Gummis hopste, sei nur kurz schmeichelhaft gewesen, sagt Heike Becker. „Dadurch, dass die Kinder so wenig Zeit draußen verbringen, verkümmern auch motorische Fähigkeiten.“

Unternehmungen schaffen Nähe

Aus ihrem privaten Umfeld kennt sie auch Kinder, die von ihren Eltern über Gebühr beschäftigt werden, die sich selten Freunde treffen können, weil der Tag durchgetaktet ist. Bei ihren eigenen Kindern habe sie auf Ausgewogenheit geachtet zwischen Programm und Freizeit. Und darauf, viel gemeinsam zu unternehmen, denn das schaffe Nähe.

Ihr sei es wichtig, Eltern zu zeigen, wie wertvoll ein Kinderlachen sei, wie einfach eine Familie unabhängig vom Einkommen eine schöne Zeit miteinander verleben könne. Dabei sei es wichtig, die Eltern so früh wie möglich zu erreichen, bestenfalls schon, wenn die Kinder in die Kita gehen.

Mehr Zeit zum Spielen im Kindergarten

Kinderbuch zum Thema Mobbing

Ein Thema, das Heike Becker besonders beschäftigt, ist Mobbing. Schon die Kleinsten hätten Erfahrungen damit.

Vor zwei Jahren hat die Mutter zweier Kinder ein Bilderbuch darüber geschrieben. „Schnecke Maxi“ erzählt davon, dass Anderssein ganz normal ist.

Unter anderem wird das Buch erfolgreich in Gladbecker Kindergärten eingesetzt.

„Als Erzieherin hat man einen gewissen Stellenwert“, sagt sie. Ihr Wunsch: mehr Zeit für pädagogische Fachleute, sich mit den Erziehungsberechtigten zu beschäftigen, ihnen Angebote und Möglichkeiten aufzuzeigen, zum Beispiel die Maßnahmen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket – und sie in die Arbeit mit einzubinden.

Die persönliche Ansprache sei so wichtig, „wenn man den Eltern klarmacht, wie wertvoll Kinder sind“. Denn oftmals hätten die Eltern ja selbst schon keine Nestwärme erfahren. Und dann könnten die Kinder einfach Kinder sein und die Eltern Eltern, die Verantwortung übernehmen, Wärme geben – und Grenzen setzen. Dann würde Heike Becker auch nicht mehr so oft an ihre geraten.

Sozialdezernent: Gleiche Chancen für alle Kinder

„Arme Quartiere bringen arme Menschen hervor.“ Das ist die einfache Zusammenfassung einer komplizierten Berechnung, die erfasst, welche Risikofaktoren die Entwicklung von Kindern negativ beeinflussen können. Für den ersten integrierten Gesundheits- und Bildungsbericht hat der Kreis Recklinghausen Risikoprofile für die kreisangehörigen Städte gebildet.

Rainer Weichelt.
Rainer Weichelt. © Thomas Schmidtke

Wenig überraschend: Gladbeck liegt dabei über dem Durchschnitt. Mehr noch: Anders als in Städten, die ein starkes soziales Gefälle haben, sind in Gladbeck besonders viele Bezirke mit einem hohen sozialen Risiko behaftet. Stark betroffen ist der Süden der Stadt, aber auch im Norden wachsen demnach viele Kinder in Armut auf. Allein der Nachwuchs im Stadtwesten ist laut Statistik nicht bedroht.

Risikofaktor: Die hohe Arbeitslosenquote

Die hohe Arbeitslosigkeit spielt beim Risikofaktor eine Rolle, aber auch die oft fehlende Bildung der Eltern. Jedes vierte Kind in Gladbeck wächst in einer Familie auf, die von Sozialleistungen lebt. „Wir versuchen in Gladbeck schon seit langem, die Zwangsläufigkeitsspirale zu durchbrechen“, sagt Sozialdezernent Rainer Weichelt. Kinder aus armen oder bildungsfernen Familien sollen so die gleichen Startchancen bekommen wie Kinder, die mit geringem sozialen Risiko aufwachsen.

Im Wissen um Gladbecks schwierige soziale Lage habe der Bürgermeister das Motto „Gladbeck – die familienfreundliche Stadt“ zu seinem Credo erhoben. Initiativen wie das 2005 gegründete Bündnis für Familie und die Aktion „Kinder im Blick“ (bei der jüngst das 1000. Gladbecker Baby besucht wurde) bündeln die Angebote für Familien und für frühe Hilfen von Stadt und anderen Trägern der Jugendhilfe.

Frühe Hilfen ermöglichen Bindung

„Geholfen hat auch der Ausbau der U-3-Betreuung“, sagt Weichelt, der gleichzeitig bedauert, dass es keine Kindergartenpflicht gebe. Denn besonders Familien, die Probleme haben, könne mit pädagogischen Angeboten Hilfe geleistet werden – wenn man sie denn erreichte.

Wichtig sei es, bedrohte Familien frühzeitig zu erreichen, denn in den ersten Lebensjahren entstehen die Bindungen und das Urvertrauen, die für eine gute Entwicklung des Kindes so dringend nötig sind. An dieser Stelle setzt zum Beispiel das Programm „Opstapje“ an, das Eltern hilft, sich mit ihren Kindern vertraut zu machen und sie zu unterstützen