Gelsenkirchen. . Im Land Tschaikowskis zählt seine „Pique Dame“ zu den unverzichtbaren Heldinnen des Opernspielplans. Ein deutsches Stadttheater wie das Musiktheater im Revier muss schon Mut und Kraft aktivieren, die szenische und musikalische Herausforderung auf den Spielplan zu hieven. Es gelang. Die Premiere am Sonntag wurde vom Publikum lautstark gefeiert.

Für echte Russen ist Tschaikowskis „Pique Dame“ ein Royal Flush. Auf deutschen Spielplänen gilt die schwerblütige Schicksalsoper kaum als As im Repertoire-Ärmel. Und doch: Sonntag Abend jubelte das Premierenpublikum des Musiktheater in fußballverdächtiger Phonstärke. Mit einer Rarität so einzuschlagen, ist ein Coup zum Spielzeitende.

Der Erfolg hat viele Väter: Einer arbeitet seit über drei Jahrzehnten fürs Haus am Kennedyplatz. Heute steht Dietrich Hilsdorf im Sog der Bravo-Rufe und strahlt. Hätten wir vor 25 Jahren geglaubt, dass ihn das Bürgertum mal so einhellig feiern würde? Hätte er es gewollt?

Motiv des alles vernichtenden Glücksspiels

Sei’s drum. Auch Hilsdorfs Altersstil ist unverwechselbar. Das vermeintlich Eindeutige des Dramas unterläuft er mit feiner Diskretion. Da ist die Provokation einer zungenfertigen Nonne im Unterrock der alten Gräfin die Ausnahme. Besagte Gräfin hat einen unheilvollen Beinamen. Sie ist die „Pique Dame“ und birgt das finstere Geheimnis, im Spiel die Karten voraussehen zu können. Wäre ein labiler Filou wie Hermann nicht ihr idealer Nachfahre ? Aber die Oper stellt nach einer Novelle Puschkins zum russischen Lieblingsmotiv des alles vernichtenden Glücksspiels den anderen Weg, im großen Stil zu verlieren: die unglückliche Liebe. Es trifft Lisa, der Gräfin Mündel...

Die Fassung, die Hilsdorf und Generalmusikdirektor Rasmus Baumann spielen, zeigt massive Striche: Petersburger Sommerfrische, muntere Kinderchöre, Spazieren im Sonnenschein – alles weg. Wir hören und sehen ein Konzentrat der schlackenfreien Botschaft: die Welt, ein Kartenhaus. Dass es die Hölle ist, verrät die Tür, die in jenes verqualmte Casino „L’enfer“ führt. Wie so oft (Traviata, Köln!) hat Dieter Richter Hilsdorf einen leicht abgehalfterten Einheitsraum gebaut, in dem die Dekadenz zu Hause ist. Hilsdorf gelingt nach leicht zähem Einstieg das inszenatorische Kunst-Stück, Realismus und Geistergeschichte zum Thriller vor Tapetentüren zu machen. Eine Gespenstersonate des europäischen Ancien Régime, fein komponiert, auf edle Weise schauersatt, morbide Attraktion und Schauerballade im Offizierszwirn.

Enorme Leistung des Ensembles

Aber dieser Abend, den niemand sich entgehen lassen sollte, für den große Oper bei „Carmen“ nicht endet, trägt noch eine Säule: Was für ein Ensemble! Bis auf den Einspringer (Kor-Jan Dusseljees Hermann mit enormen Tenor-Reserven, mitunter nah am Wälse-Ruf) sind sie alle fest in Gelsenkirchen engagiert: Michael Dahmens feinnerviger Jeletzki, Piotr Procheras kerniger Tomski und Gudrun Pelkers Gräfin, die ihr berühmtes Lied suggestiv als abgeklärte Prophetie einer antiken Seherin singt. Petra Schmidt (Lisa) leistet ein großartiges Rollenporträt: Noch im Hochdramatischen mobilisiert sie Nuancen des Verletzlichen. Bravo!

Aus Tschaikowskis aparter Romantik-Bonbonniere bedient sich die Neue Philharmonie Westfalen ziemlich geschickt. Kalorienreiches dieser Art bekommt man so schnell nicht satt.

Karten/Info: 0209-4097200