Gelsenkirchen. . Arme Menschen sind kränker als reiche. Damit der Satz im strukturschwachen Ruhrgebiet künftig nicht mehr stimmt, trafen sich auf Einladung des Wissenschaftsforum Ruhr in Gelsenkirchen, um Gegenstrategien zu entwickeln. Modelle – so die Wissenschaftler – gibt es längst.
Wenn es um Spitzenplätze bei Negativ-Rankings geht, ist das Ruhrgebiet im Allgemeinen und Gelsenkirchen im Besonderen allzu oft dabei. Bei Armutsstatistiken, aber als Folge dessen auch in Sachen Gesundheit. „Das Ruhrgebiet macht gesund“ – dieses Motto gab Prof. Dietrich Grönemeyer deshalb als Wunschziel für eine möglichst nicht allzu ferne Zukunft aus. Grönemeyer eröffnete damit als Vorstand das Wissenschaftsforum Ruhr zum Thema „Gesundheitsförderung unter schwierigen Bedingungen – wer arm ist, ist auch arm dran“ im Hans-Sachs-Haus, an dem über 100 Wissenschaftler, Politiker, Ehrenamtler und Koordinatoren teilnahmen.
Familienhebammen wirken schon
Es ging um Studien, die längst den engen Zusammenhang von Armut bzw. sozialem Umfeld und Gesundheit eindeutig belegen. Es ging aber vor allem um Strategien, die diese Rahmenbedingungen verbessern könnten. Damit eben nicht arme Menschen kränker sein müssen als reiche. Es ging um Strategien, die bereits erprobt werden ebenso wie um solche, die es noch zu entwickeln gilt.
Ansätze gibt es längst viele. In Gelsenkirchen speziell sind es zum Beispiel die Familienhebammen, die so früh wie möglich eingreifen und unterstützen. Im Bereich der Seniorenarbeit gelten die Quartiersnetzwerke, die der Seniorenbeauftragte Dr. Wilfried Reckert initiierte, als exzellentes Modell, das noch weiter ausgebaut werden soll und das landesweit bereits viel Anerkennung gefunden hat (die WAZ berichtete). Die Einbindung von Eltern in die Verköstigung in den Schulen fand ebenfalls viel Beifall.
Aber: Bei der Zahl der Krankheitstage, der übergewichtigen Kinder, der diabetesbedingten Amputationen und der Schlaganfallpatienten ist Gelsenkirchen dennoch weiterhin Spitze. Spitzenplätze, die nicht nur viel zu viel Leid verursachen, sondern auch enorme Kosten.
Genau darin sieht der Leiter des Instituts Arbeit und Technik an der Westfälischen Hochschule, Prof. Josef Hilbert, jedoch eine große Chance: „Die Not ist unser bester Verbündeter“, hofft er. Denn je klarer ist, dass ein Umbau der Versorgung vor Ort und eine bessere Gesundheit der Menschen unterm Strich bares Geld spart, desto größer ist die Chance, dass dieser Wandel vollzogen werde.
Die Verwaltung
Wir haben nicht die stärksten und nicht die mobilsten Einwohner, das wissen wir. Deshalb gibt es in Gelsenkirchen Gesundheitskonferenzen mit allen Beteiligten auch schon seit den 1990er-Jahren“, erklärt Karin Welge als zuständige Dezernentin in Gelsenkirchen. Man habe mit den verschiedenen Maßnahmen wie zum Beispiel den Familienhebammen und den sehr handfesten Hilfen (Gratis-Säuglingsschlafsäcke etwa) gegen die Säuglingssterblichkeit auch schon klare Erfolge erzielt.
Aber: „Es reicht nicht, den Betroffen zu sagen, dieses oder jenes ist gut. Das Wissen ist dank Aufklärungskampagnen groß. Aber es wird deshalb nicht unbedingt auch so gehandelt“, weiß Welge. Studien bestätigen das. Angebote müssen sehr leicht erreichbar, praktikabel sein. Das größte Problem stellen ihrer Einschätzung nach die vorhandenen Strukturen dar. Die Systeme müssten aufgebrochen, flexibler werden, um direkter zusammenarbeiten zu können.
Die Politik
Die Gelsenkirchener Landtagsabgeordnete Heike Gebhard (SPD) gab sich beim Forum zuversichtlich, „obwohl die Umsetzung neuer Handlungsstrategien oft wegen der getrennten Kostenstrukturen extrem schwierig ist.“ Ein Beispiel: Wenn Gelsenkirchen mit Essen kooperieren will, wird es schwierig, weil die Nachbarstädte verschiedene Bezirksregierungen als Aufsicht haben. Aber, so Gebhard, die Politik im Land sei bereit, in die Zukunft zu investieren, auch wenn die Früchte sicher nicht mehr in dieser Legislaturperiode geerntet werden könnten. Wichtig sei es, die Haltung zu verändern. Zu erkennen und umzusetzen, was gesellschaftlich nötig ist. „Das muss die Leitschnur sein!“ Gesundheitsprävention bei Kindern, an Arbeitsplätzen und im Alter müsse trotz Schuldenbremse möglich sein – auch das bedeute schließlich langfristig Kostenvermeidung.
Die Praktiker
„Drecksarbeit muss auf viele Schultern verteilt werden. Und bei einfachen Aufgaben wie Montagen am Band sollten die Arbeiter regelmäßig rotieren. Wir wissen doch, dass immer gleiches Wiederholen das Denkvermögen schädigt – irreversibel. Und dass Herausforderungen und Kontrolle das Denkvermögen steigern und länger erhalten. Warum wird dieses Wissen nicht genutzt“, klagt Prof. Michael Falkenstein vom Leibniz-Institut für Arbeitsforschung.
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Dr. Anja Hartmann, Projektmanagerin beim Netzwerk der Gesundheitswirtschaft, MedEcon Ruhr, fordert, den Schwerpunkt auf die Frühförderung von Kindern aus benachteiligten Familien zu legen. Weil man weiß, wie stark und schwer umkehrbar Negativeffekte von schlechtem Wohnumfeld, geringer Bildungsförderung, schlechter Ernährung und Stress in der Familie bei der Entwicklung von Kindern sind. Und wie hoch die Reparaturkosten bzw. im Gegenzug das Einsparpotenzial bei Frühförderung ist. Eine andere Forderung: Handlungsaufforderungen für arme Familien müssen leicht umsetzbar sein, damit sie genutzt werden. Ist die Messlatte zu hoch, wird erst gar nicht versucht, sie zu überspringen.
Die Wissenschaft
„Wir haben längst genug Daten für Regionalanalysen. Aber es wird von der Verwaltung und der Politik zu wenig nachgefragt“, klagt Stephan von Bandemer, Leiter des Forschungsbereichs Versorgung und Internationalisierung des Instituts Arbeit und Technik. Man bekomme mehr Aufträge von außerhalb als aus der Region.
Wichtig sei es, aus den Analysen Handlungsstränge zu entwickeln. „In Gelsenkirchen könnten allein drei Millionen Euro gespart werden durch bessere Schlaganfallvorsorge. Die Modelle sind vorhanden.“
Sein Kollege, Prof. Dr. Josef Hilbert, hält die Versorgungsgestaltung für wichtiger als Stadtmarketing. Er ist aber zuversichtlich, dass die Stadt den Sprung schafft: „Wenn man bei Kongressen sagt, ich komme aus Gelsenkirchen, heißt es mittlerweile schon respektvoll: ‘Oh, da ist einer, der weiß, was Probleme sind.’“
Die Kostenträger
„Krankenkassen müssen Gestalter werden statt Verwalter“, fordert Hans-Peter Müller, langjähriges Vorstandsmitglied bei der Knappschaft. Die ambulante Versorgung von älteren Menschen, die diese sich doch so viel mehr wünschen als eine stationäre, sei heute teurer als die in Heimen. Eine dreiviertel Milliarde Euro Deckungsbeitrag koste allein die ambulante Versorgung der 200.000 schwer Pflegebedürftigen in der Knappschaft. Dabei sei diese teure Versorgung kaum effektiv. Von „Altersmessis“ mangels tatkräftiger, praxisnaher Unterstützung spricht Müller und davon, dass die Krankenkassen Geld in die Hand nehmen müssten für neue Modelle. Die Wohnungswirtschaft sei durchaus interessiert, sich mit einzubringen. „Das muss ein Businessmodell werden. Nur, wenn es als solches akzeptiert ist, kann es am Ende besser und kostengünstiger sein.“ (Nicht nur) seine Forderung: Die Leistungen aus Kranken- und Pflegeversicherung müssten übertragbar sein.