Gelsenkirchen.

Mathilde lässt nicht los. Die Reckstange nicht, an der sie ihre Klimmzüge absolviert, und auch nicht das Leben. Immerhin hat die zerzauste Greisin schon 102 Jahre auf dem Buckel.

Ihrem einsamen Dasein auf den letzten Metern des Lebens widmete sich der legendäre australische Puppenspieler Neville Tranter in seinem Stück „Mathilde - Szenen aus dem Altenheim“.

Das Leben der Alten

Diese Szene sieht man sonst nur vor Mega-Events: Karten gesucht! Mit kleinen Zetteln standen die Menschen am Donnerstag abend vor dem restlos ausverkauften Consol Theater. Nur wenige hatten noch Glück und ergatterten ein Ticket für den Großmeister des zeitgenössischen Puppenspiels, der im Rahmen der 3. Gelsenkirchener Figurentheaterwoche mit seinem Spiel rund um die traurigen Tücken des Alterns gastierte.

Tod, Abschied und vor allem der Umgang mit alten Menschen beschäftigte in diesem Jahr gleich mehrere Theaterproduktionen. Schrill und abgedreht „Der wunderbare Massenselbstmord“, deftig komödiantisch und poetisch die „Berliner Stadtmusikanten“. Konnten die Alten hier zum guten Schluss ihr Leben noch einmal selbst in die Hand nehmen, dominierte in „Mathilde“ vor allem hoffnungslose Endzeitstimmung.

Auf schwarzer Bühne hängt die alte Frau an ihrer Turnstange. Neville Tranter, der seine wunderbaren, ausdrucksstarken Charakterköpfe selbst führt, taucht mit der ersten Klappmaulpuppe auf, einem zittrigen Greis, der am Telefon die Lokalpresse über die unhaltbaren Zustände im Altenheim informiert: „Helfen Sie!“ Die beiden clownesken, bitterbösen Heimleiter („Alte, Kranke, Sterbende, wer braucht sie schon? Wir!“) freuen sich über Öffentlichkeit, schleppen einen Hund und ein paar Luftballons herbei und sind entsetzt, als der Reporter auch noch mit den Heimbewohnern sprechen will.

Enttäuschend kurzes Stück

Dann ist da noch der alte Mann, der weiß, dass er bald sterben und seine Schwester allein im Heim zurück lassen muss. Da ist der Demente, der einfach nur raus will. Alt zu werden, zeigt dies Spiel, ist kein Spaß. Was an Tranters melancholischer Tragödie wirklich berührt, anrührt, das sind die ganz winzigen, ganz leisen Momente, wenn er zum Beispiel eine Greisenpuppe langsam zu sich aufblicken und fragen lässt. „Wer bist Du?“

Das Stück ist allerdings enttäuschend kurz, die Schicksale werden nur angerissen, aber nicht zu Ende erzählt. So zögerte das Publikum noch Sekunden, bis es Beifall klatschte. Dass das Spielerduo (Wim Sitvast spielt den Pfleger) zum Schlussapplaus noch einen echten Hund mit auf die Bühne brachte, naja, nett.

Interview mit Festivalleiter Hans-Joachim Siebel 

Das Festival geht am Samstag zu Ende. Im Gespräch mit WAZ-Redakteurin Elisabeth Höving zieht Festivalleiter Hans-Joachim Siebel Bilanz.

Gelsenkirchen ließ eine Woche lang erfolgreich die Puppen tanzen. Vollführen Sie heute einen Freudentanz?

Hans-Joachim Siebel: Ja, ich tanze, aber mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Ich freue mich, dass alles so gut geklappt hat, dass die Inszenierungen durchgängig hochkarätig waren. Aber es ist auch schade, dass es jetzt vorbei ist.

Das Interesse war größer denn je.

Hans-Joachim Siebel: Das stimmt. 2010 fing es langsam an, 2012 war es gut, aber diesmal unglaublich. Bis auf wenige Plätze waren alle Angebote ausverkauft. Das Festival hat sich etabliert, es gibt eine echte Fangemeinde.

Die aus Gelsenkirchen kommt?

Hans-Joachim Siebel: Ja, aber auch darüber hinaus. Unter den 2000 Besuchern gab es welche, die sogar zwei Stunden angereist sind, für die „Berliner Stadtmusikanten“ zum Beispiel, oder für „Mathilde“.

Bei diesem Zuspruch, denken Sie an eine Erweiterung?

Hans-Joachim Siebel: Nein, ich glaube, der begrenzte Zweijahresrhythmus macht gerade das Besondere der Figurentheaterwoche aus. Das bisherige Konzept ist sehr stimmig. Außerdem steht natürlich ein Riesenaufwand dahinter, organisatorisch und finanziell.

Wie steht es um die Festivalfinanzierung für 2016?

Hans-Joachim Siebel: Wir können auf jeden Fall weiter machen, die Finanzierung ist dank der Bürgerstiftung, die das Theater auch in diesem Jahr getragen hat, gesichert. Die Stadt übernimmt nur die Personalkosten. Unsere Einnahmen waren zwar sehr gut, aber so ein Festival trägt sich nicht selbst.