Gelsenkirchen. Geboren in Tungerloh-Capellen: Viele WAZ-Leserinnen und -Leser riefen in der Redaktion an. Eines wussten alle: Sie kamen aus Sicherheitsgründen in der Bauerschaft in Gescher zur Welt.

In einem Punkt gleichen sich die Geschichten der fast 70-Jährigen: Ihre Mütter brachten sie in Tungerloh-Capellen zur Welt, weil es in Gelsenkirchen ab 1943 immer gefährlicher wurde. Um ihnen Wehenschmerz im möglichen Bombenhagel zu ersparen, wurden sie ins Münsterland gebracht: nach Gescher im Kreis Coesfeld.

Nach dem WAZ-Bericht „Geboren in Tungerloh-Capellen“ meldeten sich viele Leserinnen und Leser, allesamt sowohl überrascht als auch erfreut darüber, ihren Geburtsort in der Schlagzeile ihrer Zeitung zu lesen. Eine Zusammenfassung:

Was Mütter erzählten

Erika Mihm, geboren am 31. März 1944, war eine der ersten Anruferinnen. „Meine Mutter hat erzählt, dass es den Frauen dort sehr gut ging.“ Die Schwangeren seien vier bis fünf Tage vor dem errechneten Geburtstermin nach Tungerloh-Capellen gebracht worden. Auch Inge Schneidinger (* 1. September 1943) bestätigt das. „Meine Mutter fühlte sich dort sehr wohl.“ Die WAZ-Leserin ist eine geborene Klaus, was in Gescher nach Erzählungen ihrer Mutter zu Folgendem geführt habe: „Als ich zur Welt kam, war das Haus so voll, dass ich mir mit einem Jungen das Bett teilen musste. Und weil unser Familienname Klaus war, wurde der Junge auf den Namen Klaus getauft.“ Sie selbst trägt in Erinnerung an die betreuende Lieblings-Nonne der Mutter den zweiten Vornamen Irmlind.

Die 100. Mutter aus GE

Das war die Mutter von Margret Rucks, geborene Joszczak. Sie kam am 15. Oktober 1943 als 100. Gelsenkirchener Baby im „Schutzengelhaus“ zur Welt. „Ich bekam dafür von den Ordensschwestern ein rosa Cape mit Mützchen, das von innen mit kleinen roten Blümchen bestickt war“, berichtete sie. Wegen des etwas schwierigen Familiennamens wurde ihre Mama einfach „die 100. Mutter“ genannt.

Beobachtungen der Mütter

„Meine Mutter hat erzählt, dass dort Behinderte gelebt haben“, berichtete WAZ-Leserin Grete Stankowiak (* 9. September 1944). Auch Erika Mihm weiß davon. „Mutter erzählte, sie habe eine herzensgute aber resolute Ordensschwester kennen gelernt, die auch behinderte Menschen betreut hat. Sie habe durchs Fenster gesehen, wie sie im Garten gearbeitet haben.“ Margret Rucks hat noch mehr erfahren: „Meine Mutter wurde nach der Entbindung von behinderten Menschen in ihr Bett getragen. Die hätten sich gefreut, weil meine Mama so leicht war. Sie hat nur 78 Pfund gewogen.“

Die persönliche Erinnerung

Margret Dettert (* 1. Juni 1934) hat einen Teil ihrer Kindheit in Tungerloh-Capellen verbracht. „Ich wurde im zweiten Schuljahr, da war ich neun Jahre alt, dort hin gebracht. Kinderlandverschickung. Hinter Haus Hall gab es fünf kleine Bauernhöfe, in einem wohnte ich. Ich musste jeden Tag eine dreiviertel Stunde ins Dorf zur Schule laufen. Da bin ich immer über Haus Hall gegangen.“ Eine schöne Zeit sei das gewesen, auf dem Bauernhof. Ja, die Menschen mit Handicap hat sie auch oft gesehen. „Die Kinder machten einen glücklichen Eindruck“, ist ihre Erinnerung.

Aber: Es gab auch die Kehrseite.

Die Tante, Ordensschwester

Dem Orden der Armen Franziskanerinnen hatte sich die Tante von Ilona Rüdger (Jansen, * 21. Januar 1945) als Schwester Maria Edelberta angeschlossen. „Meine Mutter fuhr extra drei Tage zuvor zur Entbindung dorthin.“ Auch ihr Opa, Anton Kwiatkowski war dort, von der Tante wegen seines Diabetes in der Krankenstation untergebracht.“ Die Tante starb 1945.

Das dunkle Kapitel

Die Geschichte von Haus Hall sei spätestens ab Sommer 1943 untrennbar mit dem NS-Programm ,Aktion Brandt’, der dezentralen Fortsetzung der „Euthanasie“’ in „Heil- und Pflegeanstalten“ verbunden, schreibt Andreas Jordan von Gelsenzentrum unter Berufung auf die Broschüre „1855 - 1980. 125 Jahre Bischöfliches Bildungs- und Pflegeheim Haus Hall“. Bevor Gelsenkirchener dort hätten untergebracht werden können, „musste zunächst ,Platz geschaffen’ werden“. Das dürfe, so Jordan, nicht unerwähnt bleiben.